Erstaunlicherweise gab die Dame ihrem Begleiter genau jene Antwort, die auch mir auf der Zunge lag. Nicht wörtlich, aber inhaltlich: Wonach das denn wohl aussehe, fragte die Dame den Mann an ihrer Seite. "Ich würde ja auf Töpfern oder Bildhauerei tippen …", setzte sie dann mit jenem spöttischen Unterton nach, den ich im Gespräch mit Wildfremden eher nicht anschlagen würde. Aber die beiden kannten einander. Teilten sich – allem Anschein nach – sogar das Kind, das auf dem Schoß des Mannes gesessen hatte, als ich in die Straßenbahn eingestiegen war – und er mich nach rund zehn Sekunden intensiven Musterns gefragt hatte: "Waren Sie laufen?"

Foto: Thomas Rottenberg

Menschen, die ich kenne, hätte ich an dieser Stelle zu ihrer scharfsinnigen Beobachtungsgabe gratuliert: Wenn da einer in (verschwitzten) Sportsachen und mit Schlammspritzern an den Haxen in Wienerwaldnähe in die Straßenbahn steigt, ist "Töpfern und Bildhauerei" ja wirklich naheliegend.

Andererseits weiß ich auch: Hooklines müssen nicht originell sein – sie sind als Türöffner gemeint.

Und der Mann in der Straßenbahn wollte offensichtlich plaudern. Übers Laufen im Allgemeinen. Aber auch darüber, dass er, der Kärntner, der da mit seiner Familie zu einem Wien-Wochenende in die Bundeshauptstadt gekommen war, es sich halt nicht vorstellen könne, dass Laufen in der großen Stadt … und so weiter: Der Mann meinte das weder wertend noch abfällig: Er war einfach neugierig. "Ich brauche zum Laufen Wald, Berge, Landschaft – wie soll das in Wien gehen? Ihr habt im Flachland doch nur Straßen und Beton."

Foto: Thomas Rottenberg

Wir plauderten. Und er staunte. Zuerst ungläubig: als ich ihm erzählte, dass ich diesen Satz jahrelang von meinen mountainbikeverrückten Tiroler Berg- und Skitourenkumpanen vorgeleiert bekommen hätte. Und dass die mittlerweile alle widerrufen hätten: Ja, hochalpin und felsig sei es hier zwar nicht – aber dass man im Wienerwald ordentlich und auch steil und anspruchsvoll Höhenmeter machen kann, hätten sie mittlerweile alle selbst erlebt. Da schüttelte der Kärntner noch den Kopf: "Tiroler. Pfff."

Doch als ich ihm dann das mittlerweile von der Uhr aufs Handy synchronisierte Profil meines soeben absolvierten Laufes zeigte, räumte er dann doch ein, dass ich vielleicht wirklich nicht nur flunkerte: "Okay, das schaut ja doch halbwegs anständig aus."

Foto: Thomas Rottenberg

Ich weiß derartige Ansagen durchaus zu schätzen – und auch einzuordnen: Mehr als "halbwegs anständig" ist einem überzeugten Bewohner alpiner Regionen nicht zuzumuten, wenn er (oder sie) über Landschaft und Topografie Wiens spricht. Da nachzusetzen, dass mein 15-Kilometer-Lauf mit seinen 400 Höhenmetern nicht einmal ansatzweise das gesamte Potenzial der Hügelei in Wien wiedergebe und es – wenn man sich nur wenige Meter über die Stadtgrenzen hinaus in den Wienerwald wagt – auch so richtig anstrengend werden kann, sparte ich mir: Das vorgefasste Wien-Bild des Besuchers war auch so schon in seinen Grundfesten erschüttert. Es macht eben doch einen Unterschied, zu wissen, dass am Rand von Wien ein paar bewaldete Hügel herumstehen – und dann vor Augen geführt zu bekommen, was die "können".

Nur: Diese Erkenntnis ist auch für viele – sogar "echte" – Wiener oft eine Überraschung. Meistens dann, wenn sie schnaufend, keuchend und atemlos noch nicht einmal den halben Anstieg zu einem der "Gipfel" hinter sich gebracht haben.

Foto: Thomas Rottenberg

Ich rede jetzt groß. Aber: Ich war ja selbst schon viel zu lange nicht mehr hier unterwegs gewesen. Dabei ist die Runde vom Steinhof über Jubiläumswarte, Heuberg, Hanslteich und Schwarzenbergpark hinauf aufs Hameau und dann zurück in die Stadt eine meiner liebsten mittellangen Wienerwald-Trailstrecken: leicht zu laufen, abwechslungsreich, zu jeder Jahres- und Tageszeit und bei (fast) jedem Wetter möglich, einfach verkürz- oder verlängerbar – und solange man weiß, welche Hangneigung einen zurück in die Stadt bringt, kommt man ziemlich deppensicher wieder daheim an.

Kurz eine Empfehlung: auch für Einsteiger und Wiedereinsteiger in die (sanfte) Trailrennerei.

Foto: Thomas Rottenberg

Die Runde hat nämlich nicht nur für Natur- und Waldläufer einiges zu bieten: Wer will, der – oder die – kann sich da auch ein bisserl Geschichte und Zeitgeschichte erlaufen. Und etwa bei der Gedenkstätte für die ermordeten Kinder vom Spiegelgrund einen Stein gegen das Vergessen deponieren, bevor es zur Otto-Wagner-Kirche hinaufgeht.

Foto: Thomas Rottenberg

Dass die nur deshalb hier am Stadtrand steht, weil die Habsburger davon überzeugt waren, dass ein derartiges Bauwerk im Stadtzentrum nichts zu suchen habe und man sie für die "Irren" passender als für "anständiges Christenvolk" hielt, wird heute ja gern ausgeblendet. Ebenso wie die Geschichte, dass Franz Ferdinand, der die Kirche auf dem – nach ihr dann "Lemoniberg" genannten – Hügel 1907 zu ihrer Einweihung dann nolens volens doch besuchen musste, den Großteil seiner Rede einer Architekten- und Jugendstilbeschimpfung gewidmet haben soll.

Foto: Thomas Rottenberg

Nach dem Park und der Feuerwache geht es dann hinauf zur Jubiläumswarte. Die hat zwar offiziell längst schon Wintersperre – aber bereits der oberflächlichste Blick auf die abgeschabten Lackstellen am ebenso massiven wie niedrigen Gittertürchen verrät, dass dieses Verbot wohl eher theoretisch ist.

Man kann aber auch unten, vor der Warte, Wien-Forschung betreiben: Während des Zweiten Weltkriegs waren auf den Steinhofgründen Flak-Stellungen positioniert – und hier oben auf dem Hügel lag der "Gaugefechtsstand Wien", von dem aus Reichsstatthalter und Gauleiter Baldur von Schirach Wien halten wollte. Der Zugang zum Bunker – ein langer Querstollen im Berg – liegt im Wald, er wurde gesprengt. Bis vor etwa zehn Jahren konnte man aber noch hineinkrabbeln und zum einen feststellen, dass drinnen nichts mehr zu sehen ist, und sich zum anderen davon überzeugen, dass es für die Erzählungen von einem kompletten und komplexen Tunnelsystem unter dem Berg hier keine Anhaltspunkte gibt. Was noch existiert, liegt an der Oberfläche: zwei Einmannbunker – die heute vor allem als Klos genutzt werden.

Foto: Thomas Rottenberg

Über den Heuberg geht es dann Richtung Hanslteich und Marswiese. Die Direttissima aka Mountainbikeroute ist für ungeübte Hügelläufer vielleicht ein bisserl steil – insbesondere wenn der Frost die Reifenspuren knackhart gefroren hat: Wer Angst vor dem Umknöcheln hat, kann aber auch über die weiten Serpentinen der Forstautobahn ausweichen – und wird trotzdem noch schön bergauf laufen.

Der Schwarzenbergpark beginnt zwar recht sanft, doch irgendwann kippt die Landschaft nach oben, bevor man auf dem Hameau ankommt: Der Reiz dieses Ortes hat sich mir zwar nie erschlossen – aber als Ziel taugt die verlassene Hütte allemal, bevor es dann zurück in Richtung Stadt geht.

Foto: Thomas Rottenberg

Und so wirklich falsch kann man da auf dem Heimweg nicht viel machen: Die Stadtwanderwege sind gut markiert – und führen alle zu irgendeiner Straßenbahnhaltestelle. Und auch wenn man sich nicht an die Markierungen hält, sondern einfach ad libitum irgendwelchen Wegen folgt, landet man mit ziemlicher Sicherheit irgendwann wieder auf der Schwarzenbergallee. Die führt de facto nach Neuwaldegg. Und wenn da gerade keine Straßenbahn wartet, trabt man – um nicht auszukühlen – einfach noch ein bisserl entlang der Schienen.

Die schwierigste Übung kommt erst dann: Die Blicke der anderen Fahrgäste ignorieren geht leicht. Aber wenn dann (fast jedes Mal) einer "Waren Sie gerade laufen?" fragt und man selbst nicht mit "Nein, ich komm vom Töpferkurs" antworten will, wird dann jedes Mal einiges von mir abverlangt. Aber zum Glück antwortete dieses Mal ja die Frau des (wirklich netten) Kärntners ohnehin für mich.

Hier der Strava-Link zum Track

Mehr Geschichten über das Laufen in und um Wien gibt es auf derrottenberg.com.

Foto: Thomas Rottenberg