Obwohl Jamie Oliver beruflich nahezu ständig mit Essen zu tun hat, kocht er zu Weihnachten gerne selbst.

Foto: Dorling KindersleyPaul Stuart

Zu Weihnachten kommen rund 30 Gäste im Haus von Jamie Oliver zusammen.

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Jamie Oliver hat sich in seinen Turnschuhen auf die Couch gelegt, um sich auszuruhen. Doch sobald der Gast das Zimmer betritt, springt er auf. In bester britischer Höflichkeit bietet er erst mal einen Tee an und macht es sich dann wieder auf dem Sofa gemütlich. Der wohl reichste Koch der Welt, der Berichten zufolge ein Vermögen von 400 Millionen Dollar besitzt und über seine Holding-Gesellschaften mehr als 60 Restaurants, etliche Fernsehsendungen, 50 Bücher und rund 7000 Mitarbeiter verantwortet, wirkt auch mit 41 Jahren wie der nette Junge aus dem Dorfpub, wo er aufgewachsen ist.

In den vergangenen Wochen hatte er noch weniger Schlaf, als er sonst bekommt. Denn nach den ersten vier Kindern Poppy, Daisy, Petal und Buddy brachte Olivers Frau und Jugendliebe Jools im August das fünfte gemeinsame Kind, River Rocket, zur Welt. Doch von Müdigkeit lässt sich der Profi mit seiner legendären Arbeitsmoral nicht aufhalten. Er richtet sich auf dem Sofa auf und rückt noch ein Stück näher, um sich nun voll auf das Interview zu konzentrieren.

STANDARD: Herr Oliver, heute ist doch Freitag, müssten Sie da nicht eigentlich zu Ihrem Uni-Kurs?

Jamie Oliver: Doch schon, aber jetzt, so kurz vor Weihnachten, habe ich keinen Unterricht mehr. Der geht erst im neuen Jahr wieder los.

STANDARD: Wie kamen Sie denn zum Studium, nachdem Sie die Schule ja nicht gerade geliebt haben?

Oliver: Das war tatsächlich ein langer Weg. Ich kann ja so schlecht lesen und schreiben, dass ich als Jugendlicher mit meinem Kumpel Jimmy in eine Förderklasse für Legastheniker bei unserer Lehrerin Frau Murphy musste und dann mit 16 von der Schule runtergegangen bin. Damals hatte ich richtig Schiss vor Silben und Buchstaben. Deswegen hat es bis vor ein paar Jahren gedauert, bis ich mein erstes Buch gelesen habe ...

STANDARD: ... was ironisch ist, wenn man bedenkt, dass niemand außer J. K. Rowling so viele Bücher in England verkauft hat wie Sie.

Oliver: Ja, aber meine Bücher muss ich nicht schreiben, die spreche ich auf ein Diktiergerät. Und ich bin da immer getrieben von einem Ansporn, den ich schon hatte, als ich vor 17 Jahren bei der BBC als Naked Chef angefangen habe: So wie Eltern ihren Kindern beibringen wollen, welche Stadtviertel sie meiden müssen, um nicht zusammengeschlagen zu werden, so will ich den Leuten zeigen, wie sie clever mit Lebensmitteln umgehen sollten. Irgendwann habe ich dabei aber erkannt, dass ich selbst noch so viele Fragen habe und mehr darüber lernen will.

STANDARD: Und dann sind Sie zur Uni gegangen?

Oliver: Für ein normales Studium fehlt mir leider die Zeit. Deshalb habe ich vor drei Jahren bei der St. Mary's University in London angerufen, die einen guten Kurs über Ernährungswissenschaften hat. Ich habe die ganz offen gefragt: "Hey, gibt's bei euch irgendeine Möglichkeit, dass ich ein paar Professoren Geld dafür gebe, dass die einmal die Woche zu mir nach Hause kommen und mich unterrichten?"

STANDARD: Und die haben sich darauf eingelassen?

Oliver: Ja, seit drei Jahren kommen jetzt jeden Freitag immer zwei Profs für vier, fünf Stunden zu mir. Mittlerweile bin ich im Master-Kurs angekommen, aber beim Lehrplan haben wir eine Abmachung: Die Profs ziehen nicht einfach den Stoff durch, sondern wenn mich irgendein Thema besonders interessiert, können wir da auch mal viel mehr Zeit darauf verwenden. So frei habe ich Bildung davor noch nie genossen.

STANDARD: Angeblich finden Ihre Professoren den Deal recht schmackhaft, weil sie einmal im Monat von Ihnen bekocht werden.

Oliver: Die Idee dazu haben wir zusammen entwickelt. Einmal im Monat suchen wir einen externen Experten, zum Beispiel jemanden, der sich mit dem Mikrobiom unseres Darms auskennt, also all den kleinen Organismen, die dort leben und für Wissenschafter immer wichtiger werden. Den Experten versuche ich dann zu verführen, indem ich ihn zum Mittagessen einlade und damit zu uns locke.

STANDARD: Und das funktioniert?

Oliver: Ja, wir geben ihnen Liebe und gutes Essen. Vor allem gebe ich ihnen immer möglichst viele Gänge zu essen, so dehne ich den Lunch dann über vier Stunden aus, damit wir genug Zeit haben, um den oder die arme Expertin mit einer Million Fragen zu löchern.

STANDARD: Sie sind es ja gewohnt, für bekannte Leute zu Hause zu kochen, nachdem Sie dafür schon bei Brad Pitt in der Küche waren ...

Oliver: ... das stimmt, das hat angefangen, als er noch mit Jennifer Aniston zusammen war. Die hat mich damals angerufen, ob ich nicht zu Brads 40. Geburtstag nach L.A. kommen könnte, um ihn zu Hause zu überraschen und für seine zwölf Gäste zu kochen.

STANDARD: Aber jetzt zu Weihnachten laden Sie selbst viele Leute zu sich nach Hause ein?

Oliver: Ja, wie jedes Jahr, seit Jools und ich Kinder haben und damit von meinen Eltern gewissermaßen den Staffelstab als Gastgeber übernommen haben. Meine ganze Familie wohnt ja schon immer im selben Dorf, Clavering, oder im Umkreis einer Dreiviertelstunde weg: meine Eltern, meine Schwester mit ihrem Mann und auch die beiden Schwestern von Jools. Mit all unseren Kindern sind dann am 25. Dezember immer knapp 30 Leute bei uns, für die wir ein großes Essen ausrichten.

STANDARD: Kochen Ihre Kinder da mit?

Oliver: Die Kleinen schon. Die lieben es, in Töpfen zu rühren, Teig zu kneten und Gemüse zu schnipseln. Die jüngeren Kinder fürs Essen und Kochen zu begeistern war nie schwer. Nur die beiden Älteren, Poppy und Daisy, haben inzwischen weniger Lust, seit sie Teenager sind. Aber das kommt in Wellen, also hoffe ich, dass ich die beiden auch bald wieder an den Herd zurückbekomme.

STANDARD: Haben Sie denn noch Spaß daran, privat für 30 Gäste zu kochen?

Oliver: Absolut. Weihnachten war für mich schon immer zu 100 Prozent ein Familienfest. Da kann es gar nicht zu gesellig oder zu kitschig zugehen. Das kenne ich ja schon von klein auf so, weil meine Eltern damals schon das Dorfpub Cricketers hatten, das sie heute noch betreiben. Da haben wir für die Weihnachtszeit immer alles superfestlich geschmückt. Und dann kommt das Besondere von Weihnachten – speziell in der Gastronomie: Du hast erst die hektischste Zeit des ganzen Jahres – und dann, auf einen Schlag, bist du mit allem durch und kannst beruflich abschalten. Das ist so eine Befreiung, wow!

STANDARD: Kommen Sie dann jetzt über die Feiertage auch etwas zur Besinnung?

Oliver: Eigentlich nicht, ich versuche zwar nach Weihnachten eine Woche freizunehmen, aber wir haben ja gerade unser fünftes Kind bekommen, da gibt's zu Hause garantiert keinen Ort, an dem ich meine Ruhe habe. Wir hängen eher alle zu siebt in der Küche ab. Rund um unseren Aga-Herd, so eine auf alt gemachte Küchenhexe, die eigentlich gar kein Herd ist, sondern eher ein Hinternwärmer. Da kramen wir dann unsere Spieleklassiker hervor: Monopoly, Pictionary, Vier gewinnt und das Spiel, bei dem man einen Aufkleber mit einem Namen auf die Stirn bekommt, den man erraten muss – wie neulich schon, da war mein Vater Donald Trump und hat immer nur gerufen: "Elton John, ich bin garantiert Elton John!"

STANDARD: Wie ist es für Sie, weiterhin im 1000-Seelen-Dorf Clavering zu leben, in dem sich seit Ihrer Geburt wenig verändert hat, während Sie berühmt geworden sind?

Oliver: Ich liebe das Gefühl eines kleinen Dorfes. Unter der Woche leben wir ja in London, in Primrose Hill, was sich auch irgendwie dörflich anfühlt. Aber auf Dauer ist London trotzdem zu stressig für mich. Deswegen packen Jools und ich am Freitagabend dann immer unsere fünf Kinder ins Auto und fahren heim aufs Land, wo wir beide herkommen und wo ich noch immer Kontakt zu 80 Prozent der Leute aus meinem Schuljahrgang habe.

STANDARD: Dank Ihrer ist Clavering ja inzwischen so bekannt, dass immer wieder Leute extra dorthin fahren, um Ihr Haus zu suchen.

Oliver: Ja, manchmal streunen tatsächlich selbsterklärte Superfans aus irgendwelchen exotischen Ländern oder auch mal Paparazzi durchs Dorf. Aber meine Nachbarn helfen mir da. Die kenne ich ja, seit ich sie als kleiner Junge in unserem Familienpub bedient habe, und die beschützen mich. Bei aufdringlichen Paparazzi rufen sie manchmal die Polizei oder schließen sich zusammen und verjagen die auch mal selbst. Ich denke mir dann: "großartig, was für ein Segen!"

STANDARD: Und Ihre Fans, werden die auch verscheucht?

Oliver: Nein, da sind die Nachbarn etwas netter. Denen erzählt dann mein Dad, dass ich nicht zu Hause bin, gibt ihnen noch ein signiertes Buch von mir und fährt sie manchmal sogar zurück zum Flughafen.

STANDARD: Werden Sie jetzt über die Feiertage diesen Schutz auch nutzen, um sich Zeit für eine persönliche Bilanz des vergangenen Jahres zu nehmen?

Oliver: Nein, die Muße dazu habe ich mit den Kindern im Haus nie. Für mich gibt es dafür nur einen Ort: im Flugzeug auf einem Langstreckenflug nach Australien oder Japan. Da denke ich auch mal über größere Meilensteine in meinem Leben nach.

STANDARD: Einer dieser Punkte war vermutlich Ihr 40. Geburtstag, wie fiel Ihr Fazit aus?

Oliver: Oje, schlecht! Mir hat mein 40. Geburtstag überhaupt nicht behagt. Da war ich wirklich miserabel gelaunt und habe mich dagegen gesträubt, alt zu werden. Mein Selbstbild war ja immer, dass ich der junge Typ bin, der Naked Chef, und das trifft so einfach nicht mehr zu. Junge Köche sind heute 20 Jahre jünger als ich.

STANDARD: Und wie sind Sie über die Krise hinweggekommen?

Oliver: Zum Glück hatte ich ja dieses Jahr meinen 41. Geburtstag. Der war dann gut, und so kann ich wieder entspannt weitergehen. (Janek Schmidt, RONDO, 19.12.2016)