September 1976, drei Monate vor der Entführung von Richard Oetker: Clanchef Rudolf-August Oetker mit seinen drei Söhnen und zwei Schwiegertöchtern. Von links: Christian Oetker, Richard Oetker mit Ehefrau Marion, Rudolf-August Oetker, Georgia Renate und Ehemann August Oetker.

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4. November 1993: Bereits vor seiner Haftentlassung darf Dieter Zlof an der TV-Talkshow "Schreinemakers" teilnehmen und sich als Justizopfer präsentieren.

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Richard Oetker im Jahr 2013: Langes Stehen ist seit der Entführung nicht mehr möglich.

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1,75 Meter sind keine 1,94 Meter. Richard Oetker kennt den Unterschied von 19 Zentimetern wie kein anderer, er hat ihn 47 Stunden am eigenen Leib gespürt und wird diese Erfahrung wohl nie vergessen. Diese 47 Stunden ereigneten sich vor 40 Jahren, als der Industriellensohn in einem der spektakulärsten Kriminalfälle Deutschlands entführt wurde.

Es ist der 14. Dezember 1976, etwa gegen 18.45 Uhr, als der 25-jährige Richard Oetker den Parkplatz der Universität Weihenstephan in Freising bei München betritt. Der Sohn des Unternehmers Rudolf-August Oetker, Chef des Oetker-Konzerns, studiert Brau- und Agrarwissenschaften. Nach einer Abendvorlesung will er heim zu seiner Frau Marion, die er gerade erst geehelicht hat. Als er seinen Wagen aufschließen will, blickt er plötzlich in den Lauf einer Pistole. Es ist eine Gaspistole, wie sich später herausstellen wird. Gehalten wird sie von einem Mann, der sein Opfer höflich siezt und sein Gesicht hinter einer Faschingsmaske versteckt – Richard Oetkers Entführer trägt das Antlitz eines Schweins.

Der Entführer zwingt Oetker, in einen VW-Bus zu steigen. Dort muss sich der 25-Jährige in eine Holzkiste zwängen. 1,75 Meter lang, 80 Zentimeter hoch und 70 Zentimeter breit. Oetker ist 1,94 Meter groß. Die nächsten 47 Stunden muss er, an Händen und Füßen mit Handschellen fixiert, zwangsläufig in einer Embryohaltung darin liegend ausharren. Doch das ist nicht einmal die größte Tortur.

Stromschlag in der Holzkiste

Die Holzkiste ist neben einer Gegensprechanlage mit einem sogenannten Akustomaten versehen. Kommt es zu einer gewissen Fonstärke, etwa durch Hilferufe, erhält Oetker einen Stromstoß. Der Entführte bleibt aus diesem Grund still. Zu einem Stromschlag kommt es trotzdem.

Am 15. Dezember 1976 morgens streift der Entführer beim Öffnen einer Garagentür das Blechdach des Kastenwagens. Unabsichtlich, wie es später heißt, doch Zweifel bleiben. Auf alle Fälle wird ein Stromschlag ausgelöst, und zwar zehnmal stärker als gedacht. Da schlagen normalerweise alle Gliedmaßen aus, weil sich die Muskeln zusammenziehen, wird Oetker später erklären. Da er aber gefesselt ist und daher nicht ausschlagen kann, bricht er sich mit der eigenen Muskelkraft mehrere Brust- und Lendenwirbel und beide Oberschenkelhalsknochen. "In dem Moment dachte ich: Ich werde umgebracht."

Der Entführer gibt ihm Tabletten gegen die Schmerzen und ein Stück Schaumstoff, um das Liegen angenehmer zu machen. Davor und danach, verriet Oetker Jahrzehnte später der "Süddeutschen Zeitung", will er sich im Sinne des Stockholm-Syndroms an den Entführer annähern: "Ich sagte, er könne mich duzen. Antwort: "Ja, Richard, jetzt willst du wohl noch meinen Namen wissen." Oetker antwortet mit Humor: "Ja, sicher."

Der "Checker"

Den Namen seines Entführers erfährt Oetker zu diesem Zeitpunkt natürlich nicht, er soll sich einfach einen ausdenken. Die Wahl fällt auf "Checker". "Ich wollte etwas Positives, und Checker war der Spitzname eines Freundes."

Während Oetker in dieser sargähnlichen Holzkiste gefangen ist, fährt der Entführer zunächst in seine Werkstatt und dann in eine Garage. Er informiert Oetkers Gattin Marion von der Entführung und dass er 21 Millionen D-Mark Lösegeld fordert. Der Oetker-Konzern ist riesig, die Familie Oetker vermögend, doch das ist zu jener Zeit trotzdem eine Summe, die es erst einmal aufzutreiben gilt – in gebrauchten 1.000-D-Mark-Scheinen noch dazu. Es ist die bis dato größte Lösegeldforderung in Deutschland.

Am 15. Dezember wird der Entführer ungeduldig, er ruft erneut an und verlegt die geplante Lösegeldübergabe vom 17. auf den 16. Dezember. Die Polizei kann seine Stimme am Telefon mitschneiden.

Lösegeldübergabe

Einen Tag später, um 13.45 Uhr, erfolgt die Lösegeldübergabe. Der Bruder des Entführten, August Oetker, wird über Umwege zum vereinbarten Treffpunkt im Untergeschoß des Münchner Stachus gelotst: zu einer Stahltür neben einer Apotheke. Der Entführer greift sich durch die Tür, es ist eine Notfalltür zu einem Treppenhaus, den Koffer mit dem Lösegeld. Die Polizei kann ihm nicht folgen – die Tür lässt sich nur von innen öffnen.

Der Entführer fährt zurück zu seinem Opfer, bugsiert es in ein altes Auto – frei von Spuren – und fährt es in ein Waldstück am Rande Münchens, in den Kreuzlinger Forst. Danach informiert er die Familie Oetker über den Aufenthaltsort des Entführten. Polizei und Rettung machen sich auf den Weg und finden Richard Oetker – bei minus 14 Grad – schwer verletzt.

In Lebensgefahr

Richard Oetker befindet sich in akuter Lebensgefahr, Ärzte beziffern seine Überlebenschance mit 50 Prozent. "Stirbt Oetker?", titelt die "Bild". Es sind nicht die Brüche, sondern es ist seine Lunge, die durch das andauernde stark beengte Liegen großen Schaden nahm. Aus diesem Grund kann Oetker auch nicht narkotisiert und seine Brüche deshalb nicht gleich operiert werden. Er überlebt, aber er bleibt für immer gehbehindert – 2015 vor der Präsentation der Bilanzzahlen des Oetker-Konzerns stürzt er als Chef des Unternehmens beim Verlassen seines Hauses. Sein Stuhl bleibt leer. Diese Aufgabe muss er ab 2017 nicht mehr erledigen.

Die Polizei leitet eine großangelegte Fahndung nach dem Täter ein. 21 Millionen lassen sich wunderbar durch drei teilen, denken die Ermittler und gehen lange von drei Tätern aus. Es dauert zwei Jahre, bis die vom Bayerischen Landeskriminalamt eingesetzte Sonderkommission einen Einzeltäter präsentiert: Dieter Zlof. Betriebswirt, Kfz-Tüftler, Barkeeper, Tauchlehrer und Hobbyzauberkünstler. Der damals 39-Jährige ist eine illustre Person, registrierte Geldscheine führen in seine Richtung. Er leugnet hartnäckig, der Entführer Richard Oetkers zu sein. Oetker hört seine Stimme und ist sich sicher, dass es die von "Checker" ist. Doch es fehlen eindeutige Beweise für seine Täterschaft, das Lösegeld bleibt verschwunden.

Oetker wird angefeindet

In einem aufsehenerregenden Indizienprozess wird Zlof am 9. Juni 1980 zur Höchststrafe von 15 Jahren Gefängnis verurteilt. Einige Medien glauben an seine Unschuld, Oetker wird angefeindet, weil seinetwegen ein "Unschuldiger" im Gefängnis sitzt. Der angeblich Unschuldige wird 1994 aus der Haft entlassen. Er präsentiert sich als Opfer der Justiz, die Medien greifen seine Version dankend auf, laden ihn zu Talkshows ein.

1997 hat die ganze Unklarheit endlich ein Ende. Zlof versucht in London Teile des Lösegelds einzutauschen und wird erwischt. Scotland Yard kann etwa 13 Millionen des Lösegelds sicherstellen. Der Rest ist bereits verrottet, er hatte das Geld in Plastiksäcken in einem Wald vergraben. Zlof wird wegen Geldwäsche zu zwei Jahren Haft verurteilt. Kurze Zeit später gesteht er in seiner Biografie schließlich auch selbst die Täterschaft.

"Bezahlt ist schon"

Irgendwann später, nach Verbüßung der Haftstrafe, wird Zlof in einem Imbissstand arbeiten. Und Richard Oetker, heute auch Vorstand der Stiftung Weißer Ring, die sich um Opfer von Verbrechen kümmert, wird mit einem befreundeten Polizisten darüber scherzen, ob sie nicht dorthin fahren und etwas essen sollen. Denn: "Bezahlt ist schon."

Mehr als 20 Jahre später also wurde der Entführungsfall Richard Oetker endgültig geklärt. "Unser Albtraum war, dass der Entführer das Geld nach seiner Haft genießen könnte", sagte das Opfer einst. Das ist nun nicht der Fall. Er selbst, sagte er, sei wegen alldem nicht traumatisiert und könne gut schlafen. Die Schäden begrenzen sich aufs Körperliche. "Denn der Mensch", sagte der heute 65-Jährige einmal, "kann mehr aushalten, als man denkt." (Kim Son Hoang, 14.12.2016)