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Beim Schach gibt es viele Eröffnungszüge – e4 gehört zu den beliebtesten.

Foto: Reuters/Mark Kauzlarich

In meiner Schachblase gab es von Kindesbeinen an den Spruch "e4-Fragezeichen". Was einst als eher scherzhafte Lektion eines Jugendtrainers für einen schwachen oder fragwürdigen Zug begann, hat sich im Laufe der Jahre zu einer Aversion gegenüber dem Eröffnungszug entwickelt. In den letzten 200 Weiß-Partien im Internet habe ich nur 17 Mal mit e4 eröffnet.

Die Ängste, dass die Schach-WM inflationär mit e4 beginnt, so wie die Immergrüne oder die Tarrasch-Falle, konnten bereits bei der Eröffnungspartie zu Grabe getragen werden. d4 als Eröffnungszug löste Jubelschreie aus. Aber was blieb: Viele weitere Partien wurden mit dem Zug e4 eröffnet.

Wenn Weiß auch auf Remis spielt

Mehr als 50 Prozent aller Spiele unter Großmeistern über 2500 Elopunkte enden in einem Remis. Tendenz langsam steigend. Je geringer der Unterschied zwischen den Elo-Zahlen der beiden Kontrahenten, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass die Partie in einem Unentschieden endet. Bei einer Differenz von satten 55 Punkten spielten Weltmeister Magnus Carlsen und Kontrahent Sergej Karjakin die nächsten sechs Partien prompt Remis. Fünf davon begannen mit "1. e4?". Sicher, sie waren teilweise spannend. Etwa als Carlsen in der dritte Partie am Ende eine Mehrfigur behielt, Karjakin aber wieder überwältigend verteidigte. Oder die fünfte, als Carlsen durch einen Fehler eine Linie für sich selbst unzugänglich machte und unter Druck geriet. New York, fünf Stunden Schach, die Stellung hielt. Dennoch: Der Weltmeister konnte trotz wiederkehrenden Vorteilen keinen Sieg erspielen. Und dann trat eine alte Schachweisheit ein: Die Figuren, die du nicht schlägst, schlagen dich.

Champion Carlsen verliert Partie Nummer acht. Mit einer Eröffnung, die ich seit 19 Jahren spiele und liebe. Dieser Abend glich einer emotionalen Achterbahn in einem Geisterschloss. Er hat Fehler gemacht, Karjakin hat sie genutzt, eiskalt. Nach einem weiteren e4-Remis kam die spanische Wende im 10. Spiel. Verteidigungsminister Karjakin übersieht eine forcierte Remiskombination, gerät in eine schlechtere Position und verliert die Partie. Sichtlich erleichtert remisiert sich Carlsen über den Königsbauer ins Tie Break. Der Rest ist bekannt. Die letzte Partie vollendet er mit einem Damenopfer, eines der schönsten Gefühle im Schach. Wenn man danach gewinnt zumindest. Immerhin konnte er, dem die Partien der WM sogar selbst "zu unspektakulär" waren, die Fans ein wenig entschädigen. Auch wenn da schon alles entschieden war.

Freunde werden wir keine mehr

Meine Beziehung zu 1. e4 hat sich durch diese WM nicht verbessert. Im Gegenteil. Im Schach, wo Kreativität ja ein Muss ist, habe ich mir mehr Eröffnungsvielfalt erhofft. Vielleicht hat Karjakin das gespürt, als er in der allerletzten Partie einen Sizilianer auspackte. Genützt hat es freilich nichts. Schach ist ein sehr kalkulierter Sport, der Anspruch an das Gehirn unglaublich hoch. e4 hingegen fühlt sich an wie Salat als Hauptspeise. Ja, irgendwie ist es schon okay. Aber jeden Tag muss man es nicht haben. (Jürgen Tasch, 12.12.2016)