Menschliche Langerhans Inseln, mit dem Malaria-Medikament Artemisinin behandelt und immunofluoreszent gefärbt: Zellkern (blau), ARX (weiß), Glukagon (rot) und C-Peptid (grün). Das Bild ist im Fachmagazin Cell erschienen

Foto: Cell-Press/Kubicek/CeMM

Wien – Experten sprechen von einem der genialsten Gleichgewichtssysteme, die die Natur zu bieten hat: Die gesunde Bauchspeicheldrüse von Säugetieren produziert mit ihren Betazellen das Hormon Insulin und sorgt dafür, dass Zucker vom Blut in die Zellen transportiert und dort in Energie umgewandelt wird – ein lebenswichtiger Prozess.

Die Alphazellen der Bauchspeicheldrüse sind die Gegenspieler und steuern mit der Produktion des Peptidhormons Glukagon dagegen. Würde der Blutzuckerspiegel zu sehr absinken, dann kann dieses Defizit im Körper zu zahlreichen unangenehmen Folgen führen: Schwindel, Zittern, Benommenheit und Ohnmacht wären die Konsequenz. Das Gleichgewichtssystem ist beim Typ-1-Diabetes empfindlich gestört: Betazellen werden vom Immunsystem angegriffen und zerstört, Patienten müssen lebenslang künstliches Insulin injizieren.

Wissenschafter haben schon vor sieben Jahren im Tierversuch herausgefunden, dass sich die Alphazellen mit genetischen Methoden so umwandeln lassen, dass sie für Betazellen einspringen können, wenn davon zu wenige oder keine mehr vorhanden sind. Zuletzt haben Forscher des Wiener Zentrums für Molekulare Medizin (CeMM) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) entdeckt, dass ein seit Jahren bekanntes Malaria-Medikament genau diese Umwandlung in Modellorganismen und menschlichen Zellkulturen möglich macht und darüber im Fachmagazin Cell berichtet: Der pflanzliche Wirkstoff Artemisinin, für dessen Entdeckung die Chinesin Tu Youyou im vergangenen Jahr den Nobelpreis erhielt.

Zu wenig Sonne

Warum ist diese Entwicklung so wichtig? In Österreich erkranken jährlich etwa 18 von 100.000 Menschen meist als Kinder oder Jugendliche an Typ-1-Diabetes. In südlichen Ländern liegt der Prozentsatz darunter, in nördlichen sogar darüber, was laut Studien mit geringerer Sonnenstrahlung und dem damit verbundenen Vitamin-D-Mangel, aber auch mit viralen Infektionen zu tun haben könnte.

Die Erkrankung basiert auf einem fatalen Irrtum: Das Immunsystem hält die Betazellen für Fremdkörper und zerstört sie deshalb. Patienten brauchen das künstliche Insulin, um Kohlenhydrate aufzunehmen, ausreichend Energie für die Muskulatur zu haben und Schädigungen in Blut- und Nervenbahnen zu verhindern. Sie könnten zu Herzinfarkt und Schlaganfall führen. Die Herausforderung für Diabetiker ist, dabei im Gleichgewicht zu bleiben, nicht zu wenig und nicht zu viel Insulin zu injizieren.

Weltweit versuchen zahlreiche Forschergruppen mit unterschiedlichsten Ansätzen, die Erkrankung zu heilen. Eine Gruppe um Douglas Melton von der Harvard University gelang es schon mehrfach, aus Stammzellen insulinproduzierende Betazellen herzustellen. Sie bremsen aber verfrühte, zu große Erwartungen in Hinblick auf eine mögliche Heilung. Begründung: Man müsse erst testen, inwieweit die Gefahr einer Tumorentwicklung durch Stammzelltransplantationen besteht.

In Wien wusste man aufgrund der Kooperation mit dem französischen Genetiker Patrick Collombat, dass ein Genschalter namens ARX dafür verantwortlich ist, "dass Alphazellen wirklich Alphazellen bleiben", erzählt Stefan Kubicek, Leiter der Abteilung für chemisches Screening am CeMM, an der die Studie durchgeführt wurde: Man habe versucht, Substanzen zu finden, die diesen Genschalter umlegen.

Das Team um Kubicek hat ein Zellmodell entwickelt, um mithilfe der Substanzbibliothek am CeMM zu testen, ob vielleicht einer der darin enthaltenen, knapp 300 zugelassenen Wirkstoffe genau diese Umwandlung von glukagonproduzierenden Alphazellen in insulinproduzierende Zellen auslöst – fündig wurde man bei den Artemisininen.

Der molekulare Prozess

In Zusammenarbeit mit den Forschungsgruppen von Christoph Bock und Giulio Superti-Furga vom CeMM und Tibor Harkany an der Med-Uni Wien wurde auch der molekulare Prozess dahinter aufgeklärt: Artemisinine binden an ein Protein (Gephyrin), das GABA-Rezeptoren, zentrale Schaltstellen der zellulären Signalwege, aktiviert. In weiterer Folge verändern sich zahlreiche biochemische Prozesse in der Zelle, die letztlich die Alphazellen dazu bringen, mit ihrer Glukagon-Ausschüttung aufzuhören. ARX verschwindet aus dem Zellkern und geht ins Zytoplasma über, die Alphazellen verlieren ihre Identität.

Die maßgeblich von der privaten US-amerikanischen Juvenile Diabetes Research Foundation (JDRF) unterstützte Forschungsarbeit dauerte gut viereinhalb Jahre. Erstautor ist ein Student von Kubicek, Jin Li, der derzeit Postdoc an der Harvard University in Boston in den USA ist. Wie in jeder erfolgreichen Grundlagenforschung führen die Ergebnisse zu weiteren Fragen, die nun in nächsten Schritten geklärt werden sollen. Das Malaria-Medikament Artemisinin ist zwar für den Menschen verträglich, wird aber gewöhnlich etwa vier Tage verabreicht – dann sollte der Patient geheilt sein.

Klinische Tests notwendig

Für die Umwandlung der Alphazellen – falls das im menschlichen Organismus so funktioniert wie im Laborexperiment – müsste man das Medikament aber längere Zeit einnehmen. Die Verträglichkeit kann nur in klinischen Tests überprüft werden.

"Alphazellen", sagt Kubicek, "gehen zwar in der Maus nie aus", dennoch müsste man klären, ob beim Menschen in diesem Zelltransformationsprozess nicht auch zu wenige davon vorhanden sein könnten, was zu einer Unterzuckerung führen würde. Und schließlich ist auch die alles entscheidende Frage trotz dieses Durchbruchs noch nicht geklärt: Wie reagiert das beim Typ-1-Diabetes fehlgeleitete Immunsystem auf die neuen Zellen? Werden auch diese zerstört? Und wie kann man sie davor schützen?

Von einer möglichen Heilung des Typ-1-Diabetes ist man also weit entfernt. Kubicek: "Es ist ein neuer, vielversprechender Ansatz, der hoffentlich einmal dazu führen könnte." Nicht mehr und nicht weniger. (Peter Illetschko, 11.12.2016)