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Das Alexandra Stadium in Crewe. Bei dem heute viertklassigen Traditionsklub Crewe Alexandra wurde Barry Bennell auf junge Nachwuchsfußballer losgelassen.

Foto: reuters/noble

Nach Institutionen wie der BBC, den Kirchen und der Polizei muss sich in Großbritannien nun auch die Milliardenbranche Fußball mit jahrzehntelang vertuschten Sexualverbrechen an Kindern und Jugendlichen auseinandersetzen. Hunderte von Betroffenen haben sich bei Behörden und dem Kinderschutzbund gemeldet, 17 regionale Polizeidienststellen ermitteln gegen mehrere Dutzend Beschuldigte. Ins Zwielicht sind auch Traditionsklubs wie Newcastle und der aktuelle Spitzenreiter der Premier League, Chelsea, geraten. Man habe es mit "der größten Krise des Fußballs" zu tun, sagte der Chairman der Football Association (FA), Greg Clarke.

Zunächst veröffentlichte der Guardian – später auch andere Zeitungen – vergangenen Monat nach und nach erschütternde Zeugenaussagen ehemaliger Nachwuchs- und Profispieler. Sie beziehen sich überwiegend auf Straftaten aus den 1980er und 1990er-Jahren und beschreiben den systematischen Missbrauch von damals Elfjährigen bis hin zu 18-jährigen Jungprofis. "Ich wollte einfach nur Fußball spielen. Aber ich war auch sensibel, und auf die sensiblen, schwachen Jungen hatte Bennell es abgesehen", sagte einer, der zu den Opfern Barry Bennells gehört.

Der heute 62-Jährige galt im Norden Englands als einer der besten Talentsucher. Zu seinen Schützlingen bei Klubs wie Manchester City, Crewe Alexandra und Stoke zählten spätere Größen wie Gary Speed, der 2011 aus dem Leben geschiedene Nationalspieler und -trainer von Wales. In Crewe wurden schon Ende der 1980er Vorwürfe gegen Bennell laut. Zur ersten Verhaftung kam es 1992, seit 1994 hat der Mann drei Gefängnisstrafen von insgesamt 15 Jahren wegen Sexualdelikten verbüßt. Derzeit bereitet die Staatsanwaltschaft ein neues Verfahren vor.

Noch länger her sind die Vorwürfe gegen einen einflussreichen Jugendtrainer von Chelsea, den längst verstorbenen Eddie Heath. Brisant wird der Fall allerdings dadurch, dass der Klub erst im vergangenen Jahr einem mutmaßlichen Opfer 50.000 Pfund bezahlte. Im Gegenzug verpflichtete sich Gary Johnson zum Stillschweigen. Der Frage, ob dies im Interesse des Betroffenen sowie anderer Opfer geschah, soll nun im Auftrag der FA der erfahrene Kronanwalt Clive Sheldon nachgehen.

Verbandschef Clarke findet die Vorstellung, es sei Schweigegeld gezahlt worden, "moralisch abstoßend". In Abstimmung mit der Kripo soll Sheldon auch klären, ob die Klubs heute ausreichend für die Sicherheit ihrer Schützlinge sorgen. Immerhin, alle Erwachsenen, die mit Minderjährigen zu tun haben, müssen ein polizeiliches Führungszeugnis vorlegen. Zudem hat jeder Klub einen Verantwortlichen für Jugendschutz.

Kritik und Zweifel

Es gibt auch Kritik an den Veröffentlichungen. Charles Moore, Kolumnist des konservativen Daily Telegraph, zog die Motive Johnsons in Zweifel: "Warum ließ er sich vor Jahresfrist bezahlen? Und warum beschimpft er jetzt die Leute, die ihn bezahlt haben?" Der frühere Chefredakteur des einflussreichen Magazins Spectator beklagt, es würden bei der Behandlung der Vorwürfe "all die alten Fehler" vergleichbarer Skandale aufs Neue gemacht.

Geht es um Fälle von Missbrauch und Sexualverbrechen, ist die Öffentlichkeit auf der Insel besonders sensibilisiert. Allzu lange wurden die Hilferufe echter Opfer sowie Hinweise von Zeugen beiseitegeschoben oder unter den Teppich gekehrt. Das lag im Fall des früheren BBC-Entertainers Jimmy Savile an dessen Prominenz. Bei Vergewaltigungsvorwürfen gegen aus Pakistan stammender Taxifahrer drückten Polizei und Stadtverwaltung beide Augen zu, um Rassismusvorwürfe zu vermeiden.

Die Versäumnisse früherer Jahre bewogen 2013 einen Kriminaldirektor von Scotland Yard zur Aussage, seine Sonderkommission werde "allen Opfern, die sich bei uns melden, Glauben schenken" – als sei es nicht Aufgabe der Kripo, Zeugen anzuhören und auf Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Vergangenen Monat musste der Yard einräumen, im Eifer, angeblichen Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, einem Fantasten auf den Leim gegangen zu sein. Dieser hatte Polizei und Öffentlichkeit monatelang mit erfundenen Geschichten über ein Netzwerk von Kinderschändern und -mördern im Regierungsviertel Whitehall in Atem gehalten. (Sebastian Borger aus London, 6.12.2016)