Statistisch fundierte Analysen zum Wahlsieg von Alexander Van der Bellen und den Motiven der Wähler kennen wir genug. Nicht übersehen werden sollten diese drei Faktoren: ein Quäntchen Glück, eine – zugegeben freie – Interpretation von Gramscis Konzept von Hegemonie. Und ein Video, in dem die 89-jährige Frau Gertrude Tacheles spricht.

Die Währung der Empörung

Faktor 1: das Glück. Kein nennenswerter Anschlag im Westen hat seit der ersten Stichwahl und in den vergangenen Monaten eine europäische Hauptstadt erschüttert. Die Anschläge in Paris und Nizza sind fast ein Jahr her. Die Währung der Empörung, mit der die Populisten ungeniert und erfolgreich auf dem Emotionsschwarzmarkt Stimmen kaufen, ist volatil. Wenn es nicht kracht, geht der Kurs nach unten. Sogar das Echo der Attacken nordafrikanischer Migranten (Stichwort: Köln) auf Frauen verhallt elf Monate danach in den Echokammern rechter Propaganda.

In guter Gesellschaft

Faktor 2: Der italienische Kommunist Antoni Gramsci hat völlig zu Recht erkannt, dass Herrschaft in der bürgerlichen Gesellschaft nicht nur auf Zwang und Macht beruht, sondern auch auf "intellektueller und moralischer Führung". Eine etwas freie Projektion der von Gramsci im italienischen Kerker verfassten Memoranden auf den österreichischen Wahlkampf im Jahr 2016:

Wenn Gewerkschafter und Industriebosse, Fernsehkommissare und Austropop-Legenden, TV-Stars und Dorfbürgermeister klare Bekenntnisse für Van der Bellen ausgeben, darf sich der geneigte Wechselwähler – wenn er sich für Van der Bellen entscheidet – durchaus einreden: Er ist – wenn schon nicht wie bei Gramsci "in der besten aller Welten" zu Hause – zumindest in guter Gesellschaft als Wähler des Herrn Professor. Die Bedeutung des Effekts von Wahlaufrufen prominenter Persönlichkeiten darf im Jahr 2016 durchaus angezweifelt werden. Das freiheitliche Narrativ, wonach Norbert Hofer nicht auf die "Hautevolee", sondern auf "das einfache Volk" baut, ist eine durchaus geschickte Wahltaktik der FPÖ.

"I Am from Austria" für Unentschlossene

Sie stürzt aber just dann zusammen, wenn exakt jene Prominenten, die bei dem "einfachen Volk" einen Fuß in der Tür haben, flächendeckend, einstimmig und verkaufsstrategisch durchaus undiplomatisch klarmachen, dass sie für einen anderen Kandidaten eintreten. Mit anderen Worten: Rainhard Fendrichs Widmung seiner inoffiziellen Bundeshymne "I Am from Austria" für Van der Bellen hat Unentschlossene überzeugt – und vermutlich manch freiheitlichen Kernwähler zum Ausmisten seiner Plattensammlung bewogen.

Die John Otti Band und der Maler Odin Wiesinger würden das nicht einmal wettmachen, wenn sie demnächst mit Felix Baumgartners Luftballon in die Stratosphäre schweben und dort ein Medley von Andreas Gabalier zum Besten geben würden. Das "einfache Volk" und der Wutbürger mögen der Prominenz, den Eliten und den Arrivierten misstrauen und auf Staatskünstler schimpfen. Ganz ohne Identifikationsfiguren abseits der blauen Blase fühlt sich der durchschnittliche Wähler dennoch einsam.

Ein Meisterstück politischer Inszenierung

Die dritte Säule: Gertrude. Das Video und die Botschaft der 89-jährigen Holocaust-Überlebenden sind ein Meisterstück politischer Inszenierung. Mehr als drei Millionen Klicks sprechen für sich. Armin Wolf, Corinna Milborn und anderer Prominenz darf in den Netzwerken meist unwidersprochen die Krätze und Schlimmeres gewünscht werden. Bei einer 89-jährigen Frau hört sich der Spaß auf – und offensichtlich die Bereitschaft, aggressive Botschaften zu tolerieren. Eine 89-jährigen Frau beschimpft man nicht ungestraft, weder als Hetzerin noch als Lügnerin. Virale Empörungsstürme gegen Kritiker der FPÖ sind ein zentrales Element freiheitlicher Mobilisierung. Im Fall Gertrude tappten die blauen Social-Media-Bodentruppen in die Falle. Das Pfeiferl, mit dem Herr Kickl die Ungestümen zurückzupfeifen versuchte, blieb ungehört. Vermutlich aus dem einfachen Grund: Den Pfiff und das Pfeiferl hört man in diesen Kreisen viel zu selten.

Frau Gertrude ist eine der vermutlich letzten Zeitzeuginnen des Holocaust. Dass eine Auschwitz-Überlebende einen Beitrag dazu geleistet hat, den erstmaligen Einzug eines deutschnationalen (Ehren-)Mitglieds einer Burschenschaft in die Hofburg zu verhindern, darf als Ironie oder Rache der Geschichte verbucht werden. (Christian Kreil, 5.12.2016)