Thomas Meinecke: "Es geht mir um die Erfahrung der Disloziertheit."

Foto: Isolde Ohlbaum

Thomas Meinecke
Selbst

Suhrkamp-Verlag 2016
472 Seiten, 25,70 Euro

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STANDARD: Sie sind Musiker, DJ und Autor, haben bei Suhrkamp diverse Bücher veröffentlicht. Verstehen Sie sich als Wissenschafter oder als Künstler?

Meinecke: Als Künstler. Weil es mich der Verpflichtung zu einer gewissen Stichhaltigkeit enthebt. Ich bearbeite dieselben Themen, aber in abenteuerlichen Versuchsanordnungen. Auch die Theorie hat immer eine narrative Ebene. Mich interessiert die Belletristik an der Theorie. In meiner Rolle als Feminist möchte ich die Dekonstruktion in den Text schreiben. Die Theorie muss alles auf einen Punkt bringen, ich kann es mir leisten, die Dinge offen zu lassen. Deswegen sind meine Texte keine Essays, sondern Romane.

STANDARD: In Ihren Romanen spielt die Montage eine große Rolle. Sie verwenden Textzitate, ohne sie auszuweisen. Ist das postmodern oder ein Zeichen, dass Sie der Wissenschaftsbetrieb mit seinen Zitationsregeln nicht interessiert? Oder kommt das aus der DJ-Kultur, wo man auch mehrere Tonspuren gleichzeitig fährt?

Meinecke: Also die Zitate als solche sind schon erkennbar, aber ich gebe nicht im wissenschaftlichen, bibliografischen Sinn an, von wem sie sind. Es gibt aber immer Hinweise. Es sollte denen, die das lesen, schon klar werden, das ist jetzt zum Beispiel Flaubert. Ich baue die AutorInnen, die ich verwende, immer mit Respekt in meinen Text ein, das sind Referenzen der Verehrung.

STANDARD: Zu den Referenzen der Verehrung: Sie haben einmal einen Text von Elfriede Jelinek verwendet, das hat zu einer Brieffreundschaft geführt. Was verbindet Sie mit ihren Texten?

Meinecke: Ich habe für meinen Roman Musik einen fiktiven Monolog von Claudia Schiffer, der von Elfriede Jelinek stammt, in meinen Text importiert, ohne sie vorher zu fragen. Vor Erscheinen habe ich ihr aber das fertige Buch geschickt. Sie hat es sehr schnell gelesen und mir einen begeisterten Brief geschickt, damals noch handschriftlich. Das war, noch bevor sie den Nobelpreis erhalten hat. Daraus ist ein Brief-, eigentlich ein E-Mail-Wechsel, geworden. In den ersten Monaten habe ich immer wieder kontrolliert, ob ich keine Tippfehler gemacht habe. Denn das wäre, wie mit schmutzigen Fingernägeln vor der großen Dichterin aufzutreten. Das ist ein sehr poetologischer Austausch. Was uns verbindet, ist ein linkes, humanistisches Weltbild, eine ästhetische und politische Linie.

STANDARD: Es gibt in "Selbst" keine Figuren und keine Handlung. Venus, Karin, Genoveva, Andrea sprechen – zum Beispiel über männliche Models, die Frauenmode präsentieren, also über Geschlechterrollen -, bleiben dabei selbst aber blass, sind gleichsam Textträger. Eine Psychologisierung der Figuren interessiert Sie nicht?

Meinecke: Psychologie und vor allem Psychoanalyse interessieren mich schon, Freud, Foucault, Judith Butler. Aber das mit Figuren zu illustrieren wäre platt. Meine Figuren reden miteinander, chatförmig, SMS-förmig, mich interessieren diese Kurzformen.

STANDARD: Ihr Text flaniert von der Mode über Selbstporträts wie jene von Nan Goldin über kommunistische Kommunen in den USA zu Anaïs Nin. Er ist "nebensächlich, sprunghaft, alltäglich, offen", Eigenschaften, die gemeinhin als weiblich verstanden werden. Wollen Sie weiblich schreiben?

Meinecke: Also ich bin nicht nur hobbymäßig Feminist. Ich bin geprägt von sexuellen DissidentInnen, von Diskursen der Geschlechterverhältnisse in der Popkultur. Es geht mir um die Erfahrung der Disloziertheit, wie wir sie im Rhythm and Blues, Soul, Jazz, aber auch Techno finden, das sind lauter Positionen, die nicht mittig sind – wobei meine eigene Existenz ziemlich mittig ist. Mich interessiert die Freiheit, die aus der Marginalisierung heraus möglich ist. Also tolle Formen wie zum Beispiel der Briefroman, weil es Frauen nicht erlaubt war, "richtige" Romane zu schreiben. Also männliche, monumentale, abgeschlossene. Meine Romane sind auch zur Seite hin offen, haben keinen Anfang, kein Ende und sind eher Fragestellungen als Antworten.

STANDARD: Haben Sie sich als feministischer Autor mit der Debatte über die Überwindung der binären Geschlechtszuschreibung, wie sie in Deutschland und Österreich zum Beispiel um Professor Lann Hornscheidt geführt wurde, beschäftigt?

Meinecke: Ich finde es beschämend, wie darauf reagiert wurde. Seit 1789 singen wir "Alle Menschen werden Brüder", aber Schwestern? Da hapert es. Die Sprache ist noch immer vermännlicht, da ist es nicht schlecht, darauf hinzuweisen. Die Aufregung darum ist Kastrationsangst.

STANDARD: Sie haben kürzlich als Gast des Direktors am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften ein halbes Jahr lang in Wien gelebt. Was macht den Wiener Machismo aus?

Meinecke: Vielleicht die Affinität zum Dunklen, zum Zentralfriedhof. Eine Mischung aus Ludwig Hirsch und Johnny Cash. Das Weibliche ist ja selten so morbid – und wenn, dann anders, schillernder: die Femme fatale, die schwindsüchtige Schöne. Die Männer sind raunziger, wie zum Beispiel Wanda. Für diese Männer ist Techno "Mädchenmusik", denn die brauchen die geschlossene Form, den Refrain. Oder diese Figur des dauererigierten Autors wie Thomas Glavinic, der bei einer Lesung stolz erzählt, dass er den Namen der Frau nicht kennt, neben der er aufwacht. Man muss aber dazusagen, dass es auch viele Frauen sind, die an dieser Stelle lachen.

STANDARD: Sie sind seit 30 Jahren verheiratet und mit Frau und Kind vor Jahren aufs Land gezogen. Fehlt die Stadt? Oder lebt man sowieso im Netz?

Meinecke: Wir sind mit einem damals fünfjährigen Kind aufs Dorf gezogen wegen des Mietdrucks in München, in eine ehemalige Druckerei. Wir haben den Weiler unter Bässe gesetzt. (lacht) Man kann ja auf dem Land und trotzdem urban leben. Ich fahre jede Woche in die Großstädte, Frankfurt, München, Berlin – Wien finde ich übrigens reizvoller. Ich bin ständig online, habe einen Wortwechsel mit jemandem in L.A. und gehe dann in den großen See gleich bei uns um die Ecke schwimmen. Aber darüber schreibe ich nicht. Vielleicht im Alter.

STANDARD: Ist "Selbst" ein autobiografisches Buch? Sie kommen darin nicht vor, in anderen Büchern schon, zum Beispiel in "Lookalikes", wo sich ein Thomas Meinecke durch das brasilianische Salvador de Bahia schlägt.

Meinecke: Der Roman spielt in Düsseldorf. Ich hatte ein Stipendium in Brasilien und brauchte einen "Kronzeugen" vor Ort. Aber das bin nicht ich, ebenso wenig, wie der Justin Timberlake in dem Buch Justin Timberlake ist. Ich habe da viel von Judith Butler gelernt über den Tod des Autors, über den dekonstruierten Autor. Wenn er aus Fragmenten besteht, ist das okay für mich. Ich möchte, dass sein Wissensvorsprung gegenüber den Lesenden möglichst gering ist.

STANDARD: Sie waren eingeladen, die Frankfurter Poetikvorlesungen zu halten, und haben da Texte, die über Sie geschrieben wurden, gesampelt. Verstecken Sie sich hinter Ihren Texten?

Meinecke: Ja, aber wie ein Osterei, das gefunden werden darf. Ich mische mich darunter. Wie sagt man in Kochbüchern? Unterheben.

STANDARD: Sie sind 61. Wie geht es Ihnen mit dem Älterwerden?

Meinecke: Gut. Weil es alles, was ich vor 30 Jahren begonnen habe, in Kontinuität bis heute gibt: die Band FSK, meine Veröffentlichungen bei Suhrkamp, ich lege in Clubs auf. Und ich werde in sozialen Räumen noch geduzt.

STANDARD: Wie machen Sie das?

Meinecke: Man kennt die Codes. Und die kennen mich. Nicht weil ich ein Promi bin, sondern an der Körperhaltung. Wenn ich heute vor der Grellen Forelle stehe, ist es keine Frage, ob ich reinkomme. (Tanja Paar, Album, 7.12.2016)