Ideologien wie die ultrakonservative Strömung des Salafismus stehen selten am Anfang einer Radikalisierung. Diese gedeiht erst dort, wo es Jugendlichen an Halt und Selbstwertgefühl mangelt.

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Wien – Selbst das letzte Wahlduell am Donnerstag habe gezeigt, "dass sich unser Land immer mehr zu Extrempolen entwickelt", sagte Familienministerin Sophie Karmasin (ÖVP) bei einem Pressegespräch am Freitag. Zwei Kandidaten, die "natürlich auch extremeres Potenzial abdecken" und "eher aus den extremeren Positionen der Gesellschaft kommen", stünden beispielhaft für dieses das Land begleitende Phänomen. Eigentlicher Anlass für das Gespräch war der zweite Jahrestag der Beratungsstelle Extremismus, die in der Regel eher Jugendliche und deren Angehörige betreut als Präsidentschaftskandidaten.

Rund 1.000 Anrufe bei der Hotline, mit Folgekontakten 1.800 Anrufe, verzeichnete die im Familienministerium angesiedelte Beratungsstelle seit Dezember 2014, als sie nach nur wenigen Wochen der Konzeption eingerichtet worden war. Die Zahl der Anrufe hat sich im zweiten Jahr nicht erhöht, inklusive Folgekontakte entfielen auf 2015 und 2016 jeweils etwa 900 Anrufe.

Islamistischer Fundamentalismus häufigster Grund

Die Gründe für Kontaktaufnahmen verschoben sich allerdings leicht. Anrufe wegen des Verdachts des Rechtsextremismus verdoppelten sich auf niedrigem Niveau von zwei auf heuer vier Prozent. Einen leichten Rückgang gab es wegen des vermuteten Abdriftens in Richtung islamistischer Fundamentalismus. Diese Kategorie bildete mit 42 Prozent aber noch immer das mit Abstand häufigste Motiv. Gewaltverdacht (acht Prozent), Rassismus und Menschenfeindlichkeit (vier Prozent) sowie sonstiger Extremismus (vier Prozent) folgten.

15 Prozent der Anrufe bezogen sich auf keinen Verdacht, sondern hatten den Wunsch nach Information und Vernetzung oder Anfragen nach Weiterbildungsangeboten zum Grund.

Unterrepräsentiertes Kärnten

Die größten Anrufergruppen waren Angehörige oder Freunde Betroffener (23 Prozent), Lehrer (16 Prozent) sowie Jugendarbeiter (neun Prozent). Fast zwei Drittel der Anrufe kamen aus Wien, alle anderen Bundesländer waren unterrepräsentiert – vor allem Kärnten, das mit einem Prozent der Anrufe noch hinter den geringer besiedelten Bundesländern Salzburg, Vorarlberg (je drei Prozent) und Burgenland (zwei Prozent) lag.

Aus den Erst- und Folgeanrufen resultierten laut Verena Fabris, der Leiterin der Beratungsstelle, 92 persönliche Betreuungsfälle. Jugendliche, die von extremistischen Gruppen und Ideologien vereinnahmt zu werden drohten, wurden dabei gemeinsam mit Erziehungsberechtigten über teils längere Zeiträume begleitet. In einer Handvoll Fälle wurde wegen des Verdachts bereits begangener strafbarer Handlungen die Polizei beziehungsweise Staatsanwaltschaft eingeschaltet.

Budgetaufstockung um 50.000 Euro

Die Kernarbeit besteht laut Fabris neben der Resozialisierung Betroffener in der allgemeinen Ursachenforschung. Perspektivlosigkeit, mangelnder Halt und Orientierung sowie geringes Selbstwertgefühl stünden fast immer am Beginn einer Radikalisierung Jugendlicher. Extreme Ideologien spielen anfangs keine zentrale Rolle, sie füllen in den meisten Fällen erst dieses offene Reservoir, sagte Fabris.

Wer über intakte soziale Verbindungen, Berufsaussichten und materielle Absicherung, körperliche Zufriedenheit und moralische Werte verfügt, habe auch eine gefestigte Identität und gerate nur selten in Gefahr. Auf diese Faktoren hin werden Betroffene von den Mitarbeitern der Beratungsstelle geprüft. Bei 170 Vernetzungstreffen, viele davon im Ausland, hätten sie diese Erfahrungen weitergegeben und neue Ideen erhalten.

Der tatsächliche Einfluss der Beratungsstelle lasse sich im Fall einer erfolgreichen Deradikalisierung, etwa wenn ein Jugendlicher von Ausreiseplänen nach Syrien abgehalten werden kann, nur schwer messen, sagte Fabris. Karmasin sprach dennoch von einer "sehr erfolgreichen" Einrichtung mit einer "eindrucksvollen Bilanz". Nach einer Aufstockung um 50.000 Euro steht dem Ministerium für die Einrichtung im dritten Jahr ein Budget von 350.000 Euro zur Verfügung. (Michael Matzenberger, 2.12.2016)