Rikers Island sieht jeder Tourist, der auf dem New Yorker Flughafen LaGuardia landet, aus der Luft. Unweit der Insel Manhattan, zwischen Queens und Bronx, ist es mit dem Rest der Stadt durch eine Brücke verbunden und beheimatet das größte Gefängnis der US-Metropole. Rund 7.500 Menschen sitzen in den Zellen der Haftanstalt, etwa 80 Prozent von ihnen, ohne davor einen Prozess bekommen zu haben. Die Gefangenen werden mit Bussen auf die Insel gebracht. "Es ist laut, jeder schreit, die Zellen sind überfüllt", beschreibt die 57-jährige Kathy Morse ihren ersten Eindruck nach ihrer Ankunft vor fast zehn Jahren. "Es ist angsteinflößend", erzählt der 28-jährige Ismael Nazario. "Aber du darfst keine Angst zeigen."

Rikers Island ist ein Synonym für die Gewalt und den Missbrauch in amerikanischen Haftanstalten. "Gladiatorenschule" wird etwa der Komplex für Jugendliche genannt: "Du musst kämpfen, um dich zu verteidigen. Sonst nehmen sie dir alles weg", sagt Nazario, der als Jugendlicher auf Rikers Island war. In seiner Dokumentation "Rikers" lässt der US-Filmemacher Marc Levin ehemalige Häftlinge und Angestellte der Haftanstalt zu Wort kommen – ohne Erzähler.

Kathy Morse war mehr als zehn Monate auf Rikers Island.
Foto: Mark Benjamin/RIKERS

Isolationshaft

Es sind Berichte von Misshandlungen durch Mithäftlinge, wie sie etwa Morse erzählt. Nach sieben Tagen in der Haft wurde sie von mehreren Frauen in der Dusche sexuell attackiert: "Sie wollten mir eine Lektion erteilen." Noch immer könne sie das Blut in der Luft schmecken, nachdem sie den Kampf zweier Insassinnen beobachtet hatte, wobei eine den Kopf der anderen immer wieder auf den Boden krachen ließ. "Ich konnte das Geräusch von Knochen gegen Beton hören", erzählt sie dem STANDARD. Die Wärter standen daneben. Jede, die sich einmischen wollte, erhielt eine Bestrafung.

Bestrafungen auf Rikers Island bedeuteten oft die "Box" – also Isolationshaft. Alleine in einer engen Zelle ohne Fenster. Das Licht bleibt 24 Stunden an, die Insassen müssen 23 Stunden eingesperrt sein. Mittlerweile ist Isolationshaft für Minderjährige bis 18 Jahre verboten, doch als Nazario auf Rikers war, verbrachte er von seinen 400 Tagen im Gefängnis rund 300 Tage in der Box. "Für Jugendliche ist Rikers besonders hart", erzählt er.

300 von 400 Tagen befand sich Ismael Nazario in Isolationshaft.
Foto: Mark Benjamin/RIKERS

Der Fall "Kalief Browder"

Die Haftanstalt auf der Insel vor New York wurde im Jahr 1932 gegründet und ist seitdem ein "Jail". Im Gegensatz zum "Prison" sitzen dort Menschen, die auf ihr Verfahren warten und noch nicht verurteilt sind. In die Medien gerückt ist die Gewalt an Häftlingen durch den Fall von Kalief Browder, der kurz vor seinem 17. Geburtstag im Jahr 2010 auf dem Heimweg von einer Party von einer Polizeistreife in der Bronx angehalten wurde. Er wurde verdächtigt, einen Rucksack gestohlen zu haben. Browder beteuerte seine Unschuld, wurde aber bis zu seinem Prozess auf Rikers eingesperrt. Drei Jahre lang, in denen er immer wieder versuchte, sich das Leben zu nehmen. Ein Jahr nach seiner Freilassung – durch Freispruch – erhängte er sich. Der Artikel über seine Geschichte im "New Yorker" führte zu einer nationalen Debatte über die Unterbringung der Häftlinge und die Tatsache, dass New York neben North Carolina der einzige US-Staat ist, der Jugendliche ab 16 Jahren wie Erwachsene verurteilt.

Nazario engagiert sich seit seiner Freilassung für die Rechte Gefangener.
TED

Unabhängige Kommission

New Yorks Bürgermeister Bill de Blasio hat im Juni des Vorjahrs angekündigt, umfassende Reformen im Haftsystem vorzunehmen. Unter anderem die Einrichtung einer unabhängigen Untersuchungskommission, die sich der Missbrauchsvorwürfe annehmen sollte. Rikers sei ein "Beschleuniger für menschliches Elend", sagte der Kommissionsvorsitzende und ehemalige Richter Jonathan Lippman gegenüber Medien: "Die Menschen werden in einem schlechteren Zustand entlassen, als sie eingewiesen wurden." In einem ersten Bericht im Mai dieses Jahres sprach die Kommission von Verbesserungen, die die Öffentlichkeit "optimistisch stimmen sollten". Unter anderem wurden in den vergangenen Monaten hunderte neue Wärter eingestellt, die Ausbildung reformiert und Richtlinien erlassen, wann das Personal handgreiflich gegenüber Insassen werden darf. Zur Dokumentation möglicher Übergriffe wurden zudem 1.350 zusätzliche Überwachungskameras installiert.

Trailer der Dokumentation "Rikers".
BillMoyers.com

"Babyschritte" bei Reformen

Auch Kathy Morse ist aufgrund der Entwicklungen auf Rikers vorsichtig optimistisch. Sie ist nun für eine Hilfsorganisation tätig, die Freiwillige engagiert und ausbildet, die sich um die Weiterbildung der Gefangenen kümmern. "Es werden Babyschritte gemacht", sagt sie. "Es gibt nun mehr Zugang zu Bildungs- und Beschäftigungsprogrammen und mehr Freiwillige, die Zutritt zu Rikers erhalten."

Ismael Nazario, der sich nun für die Rechte von Gefangenen engagiert, pflichtet ihr bei den Babyschritten bei, doch fügt er hinzu: "Obwohl Isolationshaft für Jugendliche verboten wurde, wird sie noch immer praktiziert, nur unter einem anderen Namen." Außerdem plädiert er für eine größere Sicht auf das Problem: "Wofür sollen wir Rikers reformieren? Wäre es nicht sinnvoller, in die Nachbarschaften zu gehen und die Menschen davon abzuhalten, dass sie erst recht dort landen?" Vor allem die Gentrifizierung der New Yorker Stadtteile trage dazu bei, dass Menschen straffällig werden: "Die Immobilienunternehmen kaufen die Leute aus ihren Wohnungen und erhöhen die Preise. Das wird über kurz oder lang zu mehr Verbrechen und Gewalt führen."

Für Filmemacher Levin ist die Reformierung von Rikers Island eine laufende Aufgabe, für die man "Courage und politische Eier" brauche. Ob die Gefängnisinsel noch zu seinen Lebzeiten geschlossen wird, wisse er nicht, doch er "hoffe es stark". Angesichts des Ausgangs der US-Präsidentschaftswahl sei er aber nur noch wenig optimistisch. (Bianca Blei, 15.12.2016)