Die drei Herren klangen so, als wollten sie eine neue Protestpartei gründen. Seit Jahrzehnten erzähle Europa die ewig selbe Geschichte und merke nicht, dass es die Menschen verloren habe, wetterte der deutsche Vertreter. Von einer Jugend ohne Glauben an die Gesellschaft sprach sein schwedischer Kollege, der Österreicher im Bunde warnte: "Wir schauen in einen Abgrund."

In der Abrechnung schwingt Selbstanklage mit, denn die Wortführer sind Chefs einer etablierten und nach wie vor an der Macht beteiligten Bewegung: Christian Kern, Sigmar Gabriel und Stefan Lövfen, die in Wien einen "europäischen Pakt für sozialen Fortschritt" präsentierten, sind Kanzler, Vizekanzler und Ministerpräsident ihrer Länder. Ist die EU tatsächlich zu einem Projekt verkommen, "das nur einigen wenigen nützt" (Kern), dann müssen in der Vergangenheit auch die Sozialdemokraten versagt haben.

Nichts hindere einen daran, klüger zu werden, hat freilich einmal ein anderer, wenn auch konservativer Staatsmann festgestellt, insofern verdient die Initiative Beachtung – zumal die Sozialdemokraten die Finger auf schmerzhafte Wunden legen. Der von einzelnen Staaten angezettelte Steuerwettbewerb, der Großkonzernen lächerlich niedrige Tarife beschert, untergräbt ebenso den Wohlfahrtsstaat wie diverse Möglichkeiten, Sozialdumping zu betreiben. Der europäische Versuch, sich aus der Krise herauszusparen, ist gescheitert: Erst im Vorjahr erreichte die Wirtschaftsleistung der Eurozone endlich wieder das Vorkrisenniveau von 2007, die Arbeitslosigkeit liegt weit darüber.

All das kritisieren Sozialdemokraten nicht erst seit gestern. Doch verabsäumt haben sie genau das, wozu Gabriel, Kern und Co nun einen neuen Anlauf unternehmen: ein handfestes Bündnis auf EU-Ebene zu schmieden, um dem Konzept der konservativen und wirtschaftsliberalen Kräfte eine Alternative entgegenzusetzen. Von den harten Budgetregeln bis zum Griechenlandpaket: Letztlich sind die in Europas Regierungen vertretenen Genossen hinterhergetrottet. Wer dann nachträglich das böse "Spardiktat" beklagt, braucht sich über fehlende Glaubwürdigkeit nicht zu wundern.

Bei der Rückeroberung derselben wartet auf Gabriel wohl eine noch schwierigere Übung als auf Kern. Die SPD hat Reformen à la Hartz IV vorangetrieben, die genau zu der von ihm nun kritisierten Botschaft passen: "Passt euch an, es geht nicht anders!"

Was ein sozialdemokratischer Pakt überdies bieten muss: eine neue Erzählung, die verdrossene Bürger auch atmosphärisch abholt, denn es geht nicht nur um Jobs, Jobs, Jobs. Wähler rechtspopulistischer Parteien sind nicht alle leibhaftige Modernisierungsverlierer, das gilt gerade für ein Land wie Österreich. Zwar ist die Berufswelt hierzulande auch für die Mittelschicht härter geworden, der massive Anstieg der Arbeitslosigkeit aber geht vor allem zulasten nichtwahlberechtigter Ausländer. Unter Österreichern hingegen ist die Zahl der Jobsucher heuer bis dato gesunken.

Doch selbst Eigenheim und SUV in der Garage immunisieren in einer Welt, die von Finanzkrise bis Flüchtlingsandrang aus den Fugen geraten zu sein scheint, nicht vor Abstiegsängsten. Rechtspopulisten bieten mit der versprochenen Rückkehr in die nationale Idylle eine tröstliche Vision an, EU-typische Verheißungen wie Wettbewerb, Flexibilisierung und Nulldefizit eher nicht. Eine überzeugende sozialdemokratische Antwort ist überfällig. (Gerald John, 29.11.2016)