STANDARD: François Fillon geht als klarer Sieger aus der Vorwahl der französischen Konservativen hervor. Warum dieser Erfolg?

Martin: François Fillon stützt sich auf eine Wählerschaft, die ein großes Gewicht hat, aber bisher von den Politikern stark vernachlässigt wurde. Diese Wähler stammen aus der Provinz, sind dort sozial gut integriert; sie haben Familie, meistens auch Geld, sie denken traditionell und haben oft schon ein gewisses Alter. Soziologisch stellen sie eine klar umrissene Bevölkerungskategorie mit einer starken Identität dar. Erstaunlich, dass sich auf der Rechten weder Jacques Chirac noch Nicolas Sarkozy wirklich um sie kümmerten; auch die Sozialisten übersahen sie völlig. Erst Fillon hat die Bourgeoisie aufgeweckt.

STANDARD: Äußerte sich auch das katholische Frankreich?

Martin: Das gehört zu dem soziologischen Profil dieser Wählerschicht. Sie beziehen sich auf die christlichen Wurzeln, weshalb Fillon und Juppé auch über die Präsentation Chlodwigs I. (466 bis 511, Anm. der Red.) in den Schulbüchern debattierten.

STANDARD: Und Jeanne d'Arc, die Ikone des Front National? Besteht da eine Konkurrenz zwischen François Fillon und Marine Le Pen?

Martin: Nur auf den ersten Blick. Marion Maréchal Le Pen, die junge Nichte von Marine Len Pen, steht zwar dem erzkatholischen und wirtschaftsliberalen Bürgertum nahe, was gewisse Affinitäten zu Fillons Wählern schafft. Die Chefin des Front National ist allerdings Marine Le Pen – und sie visiert eine ganz andere Wählerschaft an: nicht wie Fillon die historische Bourgeoisie, sondern fast das Gegenteil, nämlich die kleinen Leute, die Zu-kurz-Gekommenen, Globalisierungsopfer. Die geben ihre Stimmen nicht einem Kandidaten wie Fillon, der die Vermögenssteuer abschaffen und bei der Sozialversicherung sparen will; sie hören lieber Le Pen zu.

STANDARD: Fillon startete richtig durch, als in den USA gerade Donald Trump die Wahl gewonnen hatte. Besteht da ein Bezug?

Martin: Wenn man sich mit den Wählern und anderen Bürgern unterhält, fällt dieser Bezug sofort auf. Es kommen derzeit im ganzen Westen neue politische Stimmungen zum Ausdruck. Es ist wie eine "Befreiung" von der bisherigen westlichen Höflichkeit, von gewissen Komplexen – weshalb man den neuen Zeitgeist in Frankreich "décomplexé" nennt. Das ist auch eine Reaktion auf die Aggression durch Terrormilizen oder im wirtschaftlichen Bereich auch durch Länder wie China. Außenpolitisch kann sich das durchaus durch ein Zusammenrücken von Politikern wie Trump, Putin und Fillon äußern.

STANDARD: Worauf laufen die Präsidentschaftswahlen hinaus? Auf ein Duell Fillon – Le Pen?

Martin: Das scheint derzeit wahrscheinlich. Entscheidend ist die Frage, wer von den beiden im zweiten Wahlgang die Stimmen der übrigen Kandidaten erhalten wird. Wenn Fillon in den nächsten fünf Monaten als "Kandidat der Reichen" rüberkommt, der das Sozialmodell einreißen will, könnte das wenig politisierte Volk in Massen zu Le Pen überlaufen.

STANDARD: Die Linke scheint jedenfalls nicht in der Lage, diese Stimmen aufzufangen.

Martin: Die französische Linke muss zuerst die verworrene Lage klären. Präsident François Hollande ist sehr unpopulär, bedrängt durch interne Gegner wie Manuel Valls oder Emmanuel Macron. Sie alle wollen den Rechts-links-Gegensatz überwinden. Doch was werden sie jetzt tun, da Fillon diesen alten Gegensatz neu schafft? Da ist vieles offen, und vieles möglich bis zur Primärwahl der Sozialisten im Jänner. Generell fehlen der Linken – wie auch der bürgerlichen Rechten – Leader mit einer echten Vision. Frankreichs heutige Politiker sind bloße Verwalter, die mit Zahlen wie dem Rentenalter oder der Wochenarbeitszeit jonglieren, aber den Bürgern nicht mehr sagen können, wohin die Reise gehen soll, auch in Sachen EU nicht. (Stefan Brändle aus Paris, 28.11.2016)