Michael Turek vor dem Denkmal "Für das Kind" am Wiener Westbahnhof. Seine Mutter wurde mit dem letzten dieser Transporte gerettet.

Foto: Susanne Trauneck

Junge Teilnehmer des diesjährigen Study Trips im Jüdischen Museum.

Foto: JWS / M. Rajzman

Auch an einer Diskussion im Parlament nahmen die Teilnehmer des Study Trips teil.

Foto: JWS / M. Rajzman

Ich kann nicht vergessen, woran ich mich nicht erinnern kann", sagt Michael Turek und bringt sich in den Repräsentationsräumen des Bundeskanzleramts in Position, um Christian Kern die Hand zu schütteln. Turek ist ein agiler kleiner Mann, äußerst beweglich, trotz der ziemlich schweren Kamera, die er auf seinem Bauch balanciert. Rasch ist er ganz vorne angelangt, strahlt den Kanzler an und freut sich, dass dieser zurückstrahlt.

Nach ein wenig Smalltalk dreht er sich um und sagt, fast verwundert: "Was wohl meine Mutter gesagt hätte, dass mich der österreichische Kanzler empfängt ..." Turek wird es nie erfahren, seine Mutter ist vor einigen Jahren gestorben, daheim, in einem Vorort von New York. Dass sie aus Wien stammt, dass sie ihre ersten elf Jahre in der Franz-Hochedlinger-Gasse im zweiten Bezirk wohnte, darüber hat die Mutter nie geredet. "Da stand ich vor einer Wand", sagt Turek.

Jetzt steht er vor der kleinen Statue am Westbahnhof, die an die Kindertransporte erinnern soll. Seine Mutter, das weiß er heute, ist mit dem letzten Kindertransport 1939 ausgereist, ihre Eltern, Michaels Großeltern, blieben "bei ihren Leuten in Wien".

Auf Spurensuche

1942 wurden die Großeltern in Polen ermordet, die genauen Umstände kennt der Enkel nicht. Aber was er mittlerweile immerhin weiß, hat er vom Jewish Welcome Service (JWS) erfahren, auf dessen Initiative und Einladung er Wien für eine Woche besucht hat. "Auf Spurensuche", wie er es nennt, "in den Fußstapfen meiner Familie."

Turek ist einer von 30 Gästen aus den USA, Großbritannien, Israel, Norwegen und Argentinien, die diesmal in Wien sind. Es ist die erste Besuchsveranstaltung, an der nur Angehörige der zweiten Generation Holocaust-Überlebender teilnehmen. "Das hat sich so ergeben", sagt Generalsekretärin Susanne Trauneck, fügt aber hinzu, dies werde wohl künftig immer öfter der Fall sein.

Das hat schlicht demografische Gründe: Viele Überlebende sind mittlerweile verstorben, ihre Kinder und Kindeskinder beginnen nun ihre Wurzeln zu erforschen. Das stellt das JWS vor neue Herausforderungen, für die man sich aber gerüstet betrachtet: "Das Besuchsprogramm ist ein Selbstläufer, das Interesse riesengroß", sagt Trauneck. So groß, dass man 2011 in Kooperation mit der Universität Baltimore und dem Toronto Holocaust Education Centre die "Vienna Study Trips for Young Professionals" ins Leben gerufen hat.

Über die Studienreisen kommen nun auch junge Juden nach Wien, die keine direkten Vorfahren mit der Stadt verbinden – mit einem dichten Besuchs- und Studienprogramm: vom Besuch in der KZ-Gedenkstätte Mauthausen über das Gespräch mit Kunstraub- und Restitutionsexperten, aber auch Diskussionen mit Politikern. Generalsekretärin Trauneck sagt: "Die jungen Leute sind interessiert, aber skeptisch bis ablehnend. Wenn sie wieder nach Hause fahren, nehmen sie ein anderes Bild von Österreich mit."

Einladen statt verleugnen

Genau das war die Intention des Publizisten und Holocaust-Überlebenden Leon Zelman, der das Jewish Welcome Service 1980 ins Leben rief. Zelman arbeitete damals im Verkehrsbüro und war vor allem für Israel-Reisen zuständig. Dabei bemerkte er einerseits wachsendes Interesse von Juden mit österreichischen Wurzeln an ihrer Herkunft. Andererseits wurde er immer wieder mit dem Vorwurf konfrontiert, wie er, Zelman, der Auschwitz und Mauthausen als Einziger in seiner Familie überlebt hatte, in diesem "Mörder-Staat" leben könne.

Dem 2007 verstorbenen Zelman war es, vor allem nach der Affäre Waldheim, ein Anliegen gewesen zu zeigen, dass es auch ein "anderes Wien" gibt, das die Vergangenheit aufarbeitet, statt unter den Tisch zu kehren, das Vertriebene einlädt, statt sie zu verleugnen.

Mitbegründer waren der damalige Wiener Bürgermeister Leopold Gratz und Stadtrat Heinz Nittel (beide SPÖ), der 1981 von einem Terroristen der Abu-Nidal-Gruppe ermordet wurde. Bis heute trägt die Stadt die Basisfinanzierung des Jewish Welcome Service und lädt die Besucher, die ihre Familienwurzeln suchen, zu einem Festakt ins Rathaus.

Michael Turek war schon dort und, ganz Klischee, begeistert von "Schnitzl and Applestrudl". Die Reise in die Vergangenheit weckt freilich nicht nur positive Gefühle in ihm: Immer wieder, sagt er, erinnere er sich hier in Wien an Situationen seiner Kindheit, als ihn die scheinbare Kälte seiner Mutter verletzte: "Sie hat mir nie gesagt, dass sie mich liebt. Liebe hätte sie verwundbar gemacht. Das hat sie sich erst wieder bei ihren Enkelkindern getraut." Diese, sagt Turek, hätten schon gefragt: "When will we go to Vienna?" (Petra Stuiber, 27.11.2016)