STANDARD: Riskiert die EU wegen Flüchtlingskrise, Brexit und anderen Problemen auseinanderzufallen?

Prodi: Das glaube ich nicht, auch wenn wir feststellen müssen, dass wir am Rande eines Abgrundes stehen. Aber es gibt immerhin ein großes Risiko – vor allem, weil sich Europa selbst blockiert, selbst paralysiert.

STANDARD: Was meinen Sie damit?

Prodi: Seit Jahren wachsen die anderen mehr als wir, seit Jahren zählen wir außenpolitisch nichts mehr. In solchen Momenten der Krise wird uns aber auch bewusst, dass die EU trotz allem unentbehrlich ist. Heute aber tut man nichts, um diese Krise zu lösen, im Gegenteil: Unsere Unbeweglichkeit nimmt immer noch zu.

STANDARD: Zu der Krise gehört auch, wie man in Sachen Brexit agiert?

Prodi: Es ist unfassbar, wie hier vorgegangen wird. Man ist sich völlig uneinig, ob man die Verhandlungen verzögern oder doch lieber rasch agieren soll. Prinzipiell ist durch das Votum der Briten ein weiterer Faktor der Unsicherheit für Europa dazugekommen. Wir müssen sehr aufpassen, jetzt nicht unterzugehen, sondern immer mit dem Kopf ein bisschen über Wasser zu bleiben.

STANDARD: Wir Europäer waren früher bessere Schwimmer, oder?

Prodi: Natürlich! Bis vor zehn oder zwölf Jahren war die EU ein Gebilde, das ständig größer und bedeutsamer wurde. Denken Sie an die Erweiterung, die Einführung des Euro als Gemeinschaftswährung, die Bemühungen um eine EU-Verfassung.

STANDARD: Was ist schiefgegangen?

Prodi: Unser Sinkflug setzte ein mit der Ablehnung des bereits unterschriebenen EU-Verfassungsvertrages durch ein Referendum in Frankreich im Mai 2005 – und wenige Tage danach auch in den Niederlanden. Bis zu diesem Zeitpunkt war Europa die Hoffnung für die Welt.

STANDARD: Was passiert heute, 2016, mit den EU-Bürgern? Haben sie das Vertrauen in die EU und ihre Institutionen schon völlig verloren?

Prodi: Ich sehe ganz generell eine tiefe Krise der Demokratie – vor allem in jenen Ländern, die ich gern "barometrische Demokratien" nenne. Deren Regierungen funktionieren wie eine Kuckucksuhr: Bei Schönwetter kommt das Vögelchen raus, bei Schlechtwetter zieht es sich zurück. Sie sind nicht interessiert an mittel- oder langfristigen Wetterprognosen. Sie agieren so, als ob es gleich nächsten Sonntag eine Wahl gäbe. Das ist das wahre Problem, mit dem wir konfrontiert sind.

Der britische Premierminister David Cameron (im Bild mit seiner Familie) musste nach dem – aus seiner Sicht – gescheiterten Brexit-Referendum zurücktreten.
Foto: AFP/ADRIAN DENNIS

STANDARD: Sie kritisieren also die Auswüchse nationaler Politik und deren Auswirkungen für ganz Europa?

Prodi: Ja. Es handelt sich um eine Missbildung von Politik, die echte Leadership fast unmöglich macht, weil man sonst bei der nächsten Wahl schlicht und einfach eliminiert wird. Heutzutage kann jede noch so kleine Wahl potenziell Auswirkungen im großen Maßstab haben. Ein Urnengang in Innsbruck kann schnell zur europäischen Causa werden. Solche Entwicklungen verändern den Geschmack der Demokratie völlig.

STANDARD: Geschmack der Demokratie?

Prodi: Ja, früher war die Struktur der Politik klar: Eine Legislaturperiode dauert vier oder fünf Jahre. In den ersten zwei Jahren muss man die Wähler enttäuschen, weil man die nötigen Entscheidungen treffen muss. Dann setzen deren positive Effekte ein, und man kann zuversichtlich in die Neuwahl gehen. Das kann sich heute keine Regierung mehr leisten. Heute ist eine Politik wie jene des damaligen deutschen Kanzlers Helmut Kohl nicht mehr möglich, der an den Euro glaubte und ihn trotz massiver Widerstände der Bürger durchzusetzen wusste. Es fehlt an Mut, aber auch an Durchsetzungsfähigkeit. Manchmal ist es das eine, manchmal das andere, manchmal beides.

STANDARD: Und daher suchen sich die Politiker die Legitimation nun vermehrt in riskanten Referenden?

Prodi: Volksabstimmungen sind dort in Ordnung, wo es um große Angelegenheiten geht, nicht aber dort, wo es bloß um einzelne Interessen oder Probleme technischer Natur geht. Mit Referenden muss sehr umsichtig umgegangen werden. Im Falle der Briten war es so, dass die Regierung das Referendum überhaupt nur aus Eigeninteresse angesetzt hatte und sich sicher war, es ganz leicht zu gewinnen. Passiert ist bekanntlich genau das Gegenteil: Es wurde zu einer Abstimmung gegen die angebliche Übermacht aus Brüssel. Das ist schon aus wirtschaftlichen Gründen Unsinn: Die EU-Kommission kontrolliert nicht einmal ein Prozent des europäischen Bruttoinlandsprodukts, da kann man nicht von Übermacht sprechen. Außerdem ist die supranationale Macht der EU faktisch zurückgegangen, als Jean-Claude Juncker auf die alleinige Kompetenz der EU-Kommission zum Abschluss von Handelsabkommen verzichtet hat. Also von Übermacht kann keine Rede rein.

STANDARD: Ist das Referendum, das Italiens Ministerpräsident Matteo Renzi zur Reform der Verfassung am 4. Dezember abhalten lässt, eines, das in Ihren Augen legitim ist?

Prodi: Renzis Vorhaben ist zwar keine Revolution der Verfassung, sondern bloß eine Adaptierung in einigen Punkten, aber es ist absolut legitim. Es muss von Gesetzes wegen sogar abgehalten werden, weil der Reformplan nicht die nötige Zweidrittelmehrheit im Parlament erhalten hatte. Das Problem mit dieser Volksabstimmung ist, dass sie massiv politisiert wurde.

Italiens Premier Matteo Renzi steht wegen des Verfassungsreferendums am 4. Dezember unter massivem Druck.
Foto: AFP/ANDREAS SOLARO

STANDARD: War es nicht Renzi selbst, der dafür gesorgt hat, indem er seinen Rücktritt im Falle einer Ablehnung angekündigt hat?

Prodi: Ich will nicht mehr sagen als: Das Referendum wurde politisiert, sein Zweck wurde völlig verzerrt. Es ist so wie damals 2005 in Frankreich: Es ging plötzlich nicht mehr um die Verfassung für die EU, sondern nur um ein Pro oder Contra zu Staatspräsident Jacques Chirac. Wir geraten in eine Politik, in der ständig Wahlkampf herrscht, egal wo in Europa.

STANDARD: In welche Richtung muss sich also Europa entwickeln? In die einer föderalen Republik wie die USA?

Prodi: Ja, aber nicht nach amerikanischem Muster, wir haben eine andere Geschichte, eine andere Entwicklung, verschiedene Sprachen. Aber doch für jene Bereiche, in denen es um die ganz großen Entscheidungen geht. Meine Vision ist, dass sich Europa nur als föderale Republik retten kann. Doch davon sind wir noch sehr, sehr weit entfernt. Im Gegenteil: Zuletzt haben wir uns von einem solchen Ziel wieder eindeutig entfernt.

STANDARD: Wenn wir schon über die Zukunft reden: Wird die Türkei jemals Teil einer europäischen Union sein?

Prodi: Das wird ganz schwierig. Mittlerweile arbeitet die Türkei daran, eine eigene Regionalmacht zu werden – das ist nicht kompatibel mit einer europäischen Idee. Früher war das noch anders. Prinzipiell tut es mir leid um diese Entwicklung. Ich war immer für eine Annäherung, ich sagte aber immer dazu, dass dies ein Prozess sein würde, der mindestens 30 Jahre dauern würde. Ich hatte den Traum einer Türkei als Freundin, die sich langsam annähert. Heute entwickelt sich Ankara zu einem regionalen Player, der sich von gewissen demokratischen Regeln verabschiedet, die aber für eine europäische Partnerschaft essenziell sind.

Romano Prodi an die deutsche Kanzlerin Angela Merkel (im Bild mit ihrem griechischen Amtskollegen Alexis Tsipras): mehr gemeinschaftliche Stärke zeigen.
Foto: AFP/STEPHANE DE SAKUTIN

STANDARD: Sie galten in den vergangenen Jahren nicht gerade als großer Anhänger der deutschen Sparpolitik, um die Eurokrise zu überwinden. Wie bewerten Sie also die Ankündigung von Kanzlerin Angela Merkel, sich noch einmal der Wahl stellen zu wollen?

Prodi: Persönlich schätze ich Frau Merkel sehr. Doch bei den Deutschen hat sich die Ansicht festgesetzt, dass jede Form der Solidarität in Europa bloß dazu führt, dass immer die Deutschen dafür bezahlen müssen. Doch das ist nicht der Fall. Ich hoffe, dass Frau Merkel zur Einsicht gelangt, dass wahre Leadership bedeutet, die Interessen aller Mitglieder einer Gemeinschaft zu wahren, nicht nur jene des eigenen Landes. So haben ja auch die USA nach dem Zweiten Weltkrieg den Marshallplan entwickelt: Sie wollten ihre Alliierten in Europa stärken und zu Wohlstand führen, um selbst stark zu bleiben. Deutschland braucht auch eine solche Leadership. Gemeinschaftliche Stärke bedeutet, sich der Nöte der Schwachen, wie etwa Griechenlands, stärker bewusst zu werden. (Gianluca Wallisch, 23.11.2016)