Der österreichische Supergroßmeister Markus Ragger analysiert.

Österreichischer Schachbund

Beschäftigt sich normalerweise mit der Milchstraße, am Montag durfte er den ersten Zug tätigen: Astrophysiker Neil deGrasse Tyson.

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Nach 7.Lb2: Carlsen spielt die ruhige Zukertort-Eröffnung.

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Nach 18…Sg4: Ein Springerausfall mit aggressiven Absichten.

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Nach 24.bxc4: Carlsen nimmt einen Isolani in Kauf, die Stellung wird kompliziert.

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Nach 37.Dd6: Mit Dd3 statt Da4 vergibt Karjakin zunächst eine große Chance.

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Nach 52…a2: Carlsen gibt auf. Schlägt er den Bauern, folgt Sg4 mit Schach.

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Die achte Partie im Schnelldurchlauf.

New York – Magnus Carlsen setzt sich ans Brett und grinst. Die Partie beginnt erst in ein paar Minuten, sein Kontrahent ist noch nicht anwesend. Aber der Weltmeister scheint sich bereits auf die achte Runde zu freuen, in der er nach zwei Schwarzpartien in Folge wieder einmal die weißen Steine führt.

Bisher hat Carlsen in diesem Match noch keinen vollen Punkt einfahren können, aber heute – so viel mag sein verschmitztes Grinsen verraten – hat er sich für Sergej Karjakin eine kleine Überraschung einfallen lassen. Karjakin kommt zum wiederholten Male erst Sekunden vor Beginn der Partie ans Brett, ein kurzer Handshake, wieder grinst Carlsen. Dann setzt sich der Herausforderer, knöpft sein Jackett auf und sieht sich, wie schon in der allerersten Partie des Wettkampfes, mit dem Doppelschritt des Damenbauern konfrontiert.

Kein Trompowski, kein Damengambit

Ohne lange zu zaudern platziert Karjakin seinen Springer auf dem Feld f6. Den überraschenden Trompowski-Angriff aus der ersten Partie wird Carlsen kaum wiederholen, und wenn, dann haben Karjakins Sekundanten den Russen in der Zwischenzeit bestimmt auf alle Eventualitäten dieses Eröffnungssystems vorbereitet.

Tatsächlich bringt auch Carlsen erst einmal in Ruhe seinen Springer über f3 ins Spiel. Karjakin schiebt als Reaktion seinen eigenen d-Bauern ins Zentrum, ein Damengambit Carlsens durch 3.c4 scheint nun die logische Fortsetzung.

Darauf aber hat der Weltmeister an diesem Tag keine Lust. Mit 3.e3 sperrt er stattdessen freiwillig seinen schwarzfeldrigen Läufer ein, den er bald darauf über das Feld b2 per Fianchetto entwickelt. Mit diesen ersten Zügen hat Carlsen ein betont ruhiges System aufs Brett gebracht, das forcierte Abfolgen und tief analysierte Varianten effektiv vermeidet.

Zukertort

Von Eröffnungsvorteil kann der Weiße in dieser Variante allerdings nur träumen. Die Geschichte der Zugfolge, die Carlsen an diesem Montag wählt, führt zurück ins Neunzehnte Jahrhundert, in die Zeit der Regentschaft Wilhelm Steinitz’, des ersten offiziellen Weltmeisters der Schachgeschichte. Steinitz eroberte den Titel im Jahr 1886 mit einem Sieg über seinen Kontrahenten Johannes Hermann Zukertort – den Erfinder ebenjenes Eröffnungssystems, das 130 Jahre später nun wieder bei einer WM zur Diskussion steht.

Und wo fand er statt, der erste Kampf um den Schachweltmeistertitel? In New York City, St. Louis und New Orleans. Steinitz siegte am Ende deutlich – nach den fünf in New York ausgetragenen Partien stand es allerdings 4:1 für Zukertort. War es vielleicht die Erinnerung an diese Geschichte, die Magnus Carlsen heute schon vor der Partie ein Lächeln aufs Gesicht gezaubert hat?

Komplexe Stellung

Ausgangs der Eröffnung haben erst je zwei Bauern das Brett verlassen, die Position ist zwar symmetrisch aber voller positioneller Spannung. Es ist die Art von Stellung, die harmlos aussieht, in der jeder Fehltritt aber verhängnisvolle Konsequenzen haben kann. Darum führen beide Spieler bedächtige prophylaktische Manöver aus: Karjakin transferiert seinen Damenspringer via f8 zum Königsflügel, Carlsen stellt erst die Dame, dann seinen weißfeldrigen Läufer zurück auf die Grundreihe, um eine Auffangstellung einzunehmen.

Als es nach einigem Geplänkel schon fast danach aussieht, als ob ein Generalabtausch auf Linie c und d die Partie ein weiteres Mal in den Remishafen steuern könnte, trifft der Weltmeister eine bemerkenswerte Entscheidung: Er lässt mit 24. bxc4 freiwillig die Entwertung seiner Bauernstruktur am Damenflügel zu. Dafür bekommt Carlsen dynamische Chancen, Karjakin muss die einzige noch offene Linie bald an die weißen Schwerfiguren abtreten.

Zeitnotschlacht

Die Lage spitzt sich nun innerhalb weniger Züge zu. Während die fachkundigen Kommentatoren im WM-Studio ein Remis immer noch für das wahrscheinlichste Ergebnis halten, läuft beiden Spielern unbarmherzig die Zeit davon: Um den dreißigsten Zug sind Carlsen wie Karjakin nur noch je etwa fünf Minuten Bedenkzeit geblieben – und das in einer der taktisch kompliziertesten Stellungen, die diese WM bisher gesehen hat.

Wieder einmal ist es Carlsen, der Öl ins Feuer gießt. Mit 32.Kh2 gibt der Weltmeister den Bauern auf a4 auf, er setzt alles auf seine Angriffschancen gegen Karjakins König. Und Karjakin greift dankend zu: Obwohl die letzte Minute seiner Bedenkzeit Sekunde für Sekunde heruntertickt, traut der Herausforderer sich zu, Carlsens Angriff zurückzuschlagen und das gewonnene Material danach vielleicht in einen vollen Punkt zu verwandeln.

Kaffeehausschach

Und was tut der Weltmeister? Er schiebt noch einen zweiten Bauern hinterher! Mit 35.c5 opfert er im Stil eines Kaffeehausschachspielers seinen ganzen Damenflügel, um in beiderseitiger Zeitnot ein Mattnetz um den schwarzen König zu knüpfen. Das Problem ist nur: Die Idee funktioniert nicht. Die Computer schlagen sofort aus und zeigen eine klare Möglichkeit für Karjakin, den Angriff zurückzuschlagen und ein gewonnenes Endspiel zu erreichen.

Im siebenunddreißigsten Zug, immer noch unter höchstem Zeitdruck, ergreift der Herausforderer seine Dame und – stellt sie auf dem falschen Feld ab! Ein hörbares Raunen geht durchs Publikum. Karjakin hat soeben seine bisher beste Chance auf einen Sieg in diesem Match ausgelassen und Carlsen eine Rettungsmöglichkeit eingeräumt. Carlsens Körperhaltung entspannt sich: Er schlägt mit seinem Springer den schwarzen Bauern auf e6, bietet Schach. Nun wird Karjakins König freigelegt und Carlsen gewinnt wenigstens einen der geopferten Bauern zurück.

Alles unklar

Wenige Züge später ist die Zeitkontrolle geschafft, die Kontrahenten können sich die Lage wieder in Ruhe betrachten: Karjakin hat einen gefährlichen Freibauern auf der a-Linie, aber sein König hat seinen Bauernschutz eingebüßt. Die Stellung ist wieder völlig unklar, niemand will sich darauf festlegen, wo diese wilde Partie noch hinsteuert.

Aber gerade als es ein weiteres Mal danach aussieht, als ob sich die noch vorhandene Spannung zum Remis verflüchtigen könnte, begeht Carlsen einen weiteren, zunächst unmerklichen Fehler: Er lässt zu, dass Karjakins Dame das Feld c5 erreicht, von wo aus sie zugleich den eigenen König vor Schachgeboten schützt und droht, dem Freibauern auf a3 im geeigneten Moment Flügel zu verleihen. Nur zwei Schritte noch, dann würde der unscheinbare Fußsoldat das Ende des Brettes erreichen und sich selbst in eine Königin verwandeln. Kann Carlsen das noch verhindern?

Karjakin geht in Führung

Nach zweiundfünfzig Zügen ist diese Frage mit einem klaren Nein beantwortet: Karjakins Bauer steht auf a2, Carlsen darf ihn nicht schlagen, ohne seinen König nach Sg4 mit Schach einem Angriff auszusetzen, der nur noch durch ein Damenopfer zu parieren wäre. Carlsen verzieht das Gesicht, reicht Karjakin die Hand zur Aufgabe: Der Herausforderer hat den Weltmeister mit Schwarz eiskalt ausgekontert, es steht 4,5 zu 3,5 für Sergej Karjakin.

Die Pressekonferenz produziert dann noch einen kleinen Eklat, als Carlsen zunächst allein am Podium sitzt und verloren in die Ferne starrt, während er auf die Ankunft seines siegreichen Gegners wartet. Schließlich wird es dem geschlagenen Weltmeister zu bunt, gestikulierend rauscht er ab und ward an diesem Montagabend nicht mehr gesehen.

Nur noch vier Partien

Unmittelbar darauf erscheint Karjakin, beantwortet die Fragen der Journalisten ausführlich und naturgemäß in bester Laune. "Es kann noch alles passieren", sagt er mehrmals, wobei er sich sichtlich bemühen muss, seine Jubelstimmung nicht zu deutlich zur Schau zu stellen.

Denn der Herausforderer weiß: Magnus Carlsen hat nur noch vier Partien Zeit, den Score auszugleichen. Gelingt ihm kein Sieg, dann heißt der neue Weltmeister Sergej Karjakin. Die Zeit des Abwartens ist vorbei, der Norweger muss nun liefern. Der Druck auf Carlsen steigt noch einmal, ein hoch spannendes letztes Drittel der WM scheint garantiert.

Am Dienstag wird pausiert, am Mittwoch folgt Partie neun, in der der Herausforderer mit den weißen Steinen spielt. (Anatol Vitouch aus New York, 22.11.2016)

Die Notation der achten Partie:
Weiß: Magnus Carlsen (Norwegen)
Schwarz: Sergej Karjakin (Russland)

1.d4 Sf6 2.Sf3 d5 3.e3 e6 4.Ld3 c5 5.b3 Le7 6.O-O O-O 7.Lb2 b6 8.dxc5 Lxc5 9.Sbd2 Lb7 10.De2 Sbd7 11.c4 dxc4 12.Sxc4 De7 13.a3 a5 14.Sd4 Tfd8 15.Tfd1 Tac8 16.Tac1 Sf8 17.De1 Sg6 18.Lf1 Sg4 19.Sb5 Lc6 20.a4 Ld5 21.Ld4 Lxc4 22.Txc4 Lxd4 23.Tdxd4 Txc4 24.bxc4 Sf6 25.Dd2 Tb8 26.g3 Se5 27.Lg2 h6 28.f4 Sed7 29.Sa7 Da3 30.Sc6 Tf8 31.h3 Sc5 32.Kh2 Sxa4 33.Td8 g6 34.Dd4 Kg7 35.c5 Txd8 36.Sxd8 Sxc5 37.Dd6 Dd3 38.Sxe6 fxe6 39.De7+ Kg8 40.Dxf6 a4 41.e4 Dd7 42.Dxg6+ Dg7 43.De8+ Df8 44.Dc6 Dd8 45.f5 a3 46.fxe6 Kg7 47.e7 Dxe7 48.Dxb6 Sd3 49.Da5 Dc5 50.Da6 Se5 51.De6 h5 52.h4 a2

Es steht 3,5:4,5.

Weiterer Spielplan:
23.11.2016: Partie 9
24.11.2016: Partie 10
26.11.2016: Partie 11
28.11.2016: Partie 12
30.11.2016: Tie Breaks

Modus:
Die WM geht über maximal zwölf Partien und endet vorzeitig, wenn ein Spieler 6,5 Punkte erreicht. Bei Gleichstand nach zwölf Partien gibt es ein Tie-Break mit verkürzter Bedenkzeit.