Der österreichische Supergroßmeister Markus Ragger analysiert.

Österreichischer Schachbund

Bild nicht mehr verfügbar.

Einander neutralisierende Kontrahenten: Magnus Carlsen und Sergej Karjakin.

Foto: Reuters/McDermid

Nach 9…d5: Carlsen (Schwarz) opfert einen Bauern für die Initiative.

grafik: jinchess.com

Nach 21…Dd6: Hat Schwarz mehr als nur Kompensation für den Bauern?

grafik: jinchess.com

Nach 32…Le6: Symmetrische Struktur + ungleichfarbige Läufer = Remis.

grafik: jinchess.com

Die sechste Partie im Schnelldurchlauf.

New York – Sie geht wieder einmal um, die Angst vor dem Remistod. Schon vor mehr als hundert Jahren machte sich der damalige Schachweltmeister, Emanuel Lasker, Sorgen um das Ende des Spiels als Folge zu hoch entwickelter Schachtechnik. Tatsächlich hatten im 1910 gespielten WM-Wettkampf zwischen dem Deutschen Lasker und dem Österreicher Carl Schlechter acht der ersten neun Partien mit Remis geendet.

Auch Laskers Nachfolger auf dem WM-Thron, der Kubaner José Raúl Capablanca, prophezeite eine baldige Austrocknung des Spiels auf Weltklasse-Niveau: Die modernen Meister wüssten ganz einfach zu viel, der unentschiedene Ausgang sämtlicher Spitzenpartien sei auf Dauer unvermeidlich.

Stark übertrieben

Heute wissen wir, dass Nachrichten vom Ableben des Schachspiels stark übertrieben sind. Sogar im Computerzeitalter und der damit verbundenen, nie dagewesenen Vertiefung der Schach-Kenntnisse werden auch auf höchstem Niveau immer noch viele spannende Gefechte mit klaren Siegern geliefert, bei denen die Fans auf ihre Kosten kommen. Schach ist und bleibt einfach verdammt kompliziert.

Zweikämpfe um den Weltmeistertitel hatten allerdings immer ihre eigenen Gesetze. Beim WM-Match zwischen Garri Kasparow und Anatoli Karpow 1984 schoben die Spieler eine Phase von siebzehn (!) Remis-Partien in Folge ein – um dieser wenig später noch einmal vierzehn weitere Remis en suite folgen zu lassen. Der Wettkampf wurde nach mehreren Monaten vom Weltschachbund abgebrochen, der die geforderten sechs Siege für den Matchgewinn durch eine maximale Partienanzahl bei Weltmeisterschaften ersetzte.

Kein Rekord

Mit fünf Remis aus fünf Partien befinden sich Magnus Carlsen und Sergej Karjakin also durchaus nicht in Gefahr, einen neuen Rekord aufzustellen. Den plötzlichen Tod des Spiels kann bei diesem Match eigentlich ohnehin niemand im Ernst fürchten: In den Partien drei, vier und fünf hatten zunächst zweimal der Weltmeister, dann einmal sein Herausforderer äußerst gewinnträchtige Stellungen am Brett – dass diese schließlich nicht gewonnen wurden, ist weniger auf zu hoch entwickelte Verteidigungstechnik als auf den erratischen Charakter menschlichen Schachspiels sogar auf allerhöchstem Level zurückzuführen.

Trotzdem scharren an diesem Freitag natürlich sämtliche Fans und Beobachter des Wettkampfs mit den Hufen. Der Zuschauerraum ist bummvoll, im Pressezentrum ist kein Sitzplatz mehr zu bekommen. Es ist ganz so, wie Großmeister Markus Ragger es in seinem Analysevideo zur fünften Partie vorausgesagt hat: Mit jedem Remis wird die Spannungsschraube noch ein wenig mehr angezogen. Die Schachwelt hält den Atem an und wartet auf den ersten befreienden Knall.

Carlsens Bauernopfer

Carlsen ist in Partie 6 wieder einmal der erste der beiden Spieler, der knallt: Mit Schwarz bringt er seinen d-Bauern heute in einer weiteren Spanischen Partie im neunten Zug nach d5. Das ist ein Gambit, das verheißt freies Figurenspiel für den Weltmeister, im Austausch gegen einen geopferten Bauern.

Dabei hatte Karjakin wie in der vierten Partie eine gegen das Marshall-Gambit gerichtete Zugfolge ausgepackt, um den Norweger nach Möglichkeit an derlei früher Aggression zu hindern. Carlsen aber kümmert das nicht, Marshall hin oder her, der Bauer wird geopfert, ein Angriff auf den weißen König wäre die gewünschte Folge.

Karjakin unbeeindruckt

Karjakin zeigt sich kurz überrascht, um dann ein weiteres Mal überzeugend zu demonstrieren, warum er so schwer zu schlagen ist: Ohne viel Bedenkzeit dafür zu verbrauchen, neutralisiert der Russe mit einer präzisen Zugfolge die Initiative des Weltmeisters. Den Bauern gibt er im geeigneten Moment zurück, von Gefahr für den weißen König kann bald keine Rede mehr sein. Zwar lässt sich auf diese Weise auch für Weiß kein Vorteil herausschinden, Carlsens Ansatz eines Druckspiels hat Karjakin aber effektiv im Keim erstickt.

Bereits nach 32 Zügen stellt sich der absehbare Remis-Schluss einer wenig aufregenden Partie ein: Die Bauernstellung ist symmetrisch, und die schon aus der gestrigen Partie wohlbekannten ungleichfarbigen Läufer leisten ihrer jeweiligen Dame angenehme Gesellschaft. Beide Könige stehen außerdem sicher, die Partie unter diesen Voraussetzungen fortzusetzen wäre reine Zeitverschwendung.

Ein kurzer Arbeitstag

Bei der anschließenden Pressekonferenz wirken die Spieler erleichtert über ihren ersten kurzen Arbeitstag bei diesem WM-Match. Karjakin führt Schmäh mit den Fragen stellenden Journalisten, so kommen die hunderten zahlenden Zuschauer im Fulton Market Building trotz der kurzen Partie noch ein wenig auf ihre Kosten.

Und auch der Weltmeister wirkt heute wieder versöhnlicher, weniger fahrig als nach der gestrigen vermurksten Partie. Er sei mit dem Stand des Wettkampfs zur Halbzeit natürlich nicht zufrieden, sagt Carlsen, aber immerhin habe er an diesem Tag eine korrekte Partie abgeliefert. Sollte es Carlsens Ziel gewesen sein, sich mit der Schwarzpartie psychisch zu stabilisieren, dann scheint die Übung gelungen.

Zum Abschluss sorgt dann noch ein kleines Mädchen für allgemeine Erheiterung, das von den beiden Spielern wissen will, wann sie denn eigentlich mit ihrem ersten Sieg in diesem Match rechnen würden. Die Angst vor dem Remistod, sie wird in New York City heute einfach weggelacht.

Am Samstag ist spielfrei, am Sonntag ändert sich der Farbrhythmus: Karjakin beginnt die zweite Hälfte des Wettkampfs mit den weißen Steinen. Zur Halbzeit steht es 3:3. (Anatol Vitouch aus New York, 18.11.2016)

Die Notation der sechsten Partie:

Weiß: Sergej Karjakin (Russland)
Schwarz: Magnus Carlsen (Norwegen)

1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.Lb5 a6 4.La4 Sf6 5.O-O Le7 6.Te1 b5 7.Lb3 O-O 8.h3 Lb7 9.d3 d5 10.exd5 Sxd5 11.Sxe5 Sd4 12.Sc3 Sb4 13.Lf4 Sxb3 14.axb3 c5 15.Se4 f6 16.Sf3 f5 17.Seg5 Lxg5 18.Sxg5 h6 19.Se6 Dd5 20.f3 Tfe8 21.Te5 Dd6 22.c3 Txe6 23.Txe6 Dxe6 24.cxb4 cxb4 25.Tc1 Tc8 26.Txc8 Dxc8 27.De1 Dd7 28.Kh2 a5 29.De3 Ld5 30.Db6 Lxb3 31.Dxa5 Dxd3 32.Dxb4 Le6

Es steht 3:3.

Weiterer Spielplan:
20.11.2016: Partie 7
21.11.2016: Partie 8
23.11.2016: Partie 9
24.11.2016: Partie 10
26.11.2016: Partie 11
28.11.2016: Partie 12
30.11.2016: Tie Breaks

Modus:
Die WM geht über maximal zwölf Partien und endet vorzeitig, wenn ein Spieler 6,5 Punkte erreicht. Bei Gleichstand nach zwölf Partien gibt es ein Tie-Break mit verkürzter Bedenkzeit.