"Wo auch immer du bist ist der Eintrittspunkt" – diese Zeile aus Francis Alÿs' überwältigender Minigemälde-Serie "Le temps du sommeil" (begonnen 1996) gilt auch für die Betrachter derselben.

Foto: Francis Alÿs und Galerie Peter Kilchmann, Zürich

Wien – Francis Alÿs ist für Aktionen und Performances mit politischer Tragweite bekannt. Etwa für die verausgabungsvolle Intervention Re-enactments, inszeniert anno 2000 in Mexiko-Stadt: Der Künstler trug, gut sichtbar, eine Pistole durch die Stadt spazieren. Er wollte herausfinden, wie lange es dauern würde, bis man ihn aufhält. Als ihn nach elf Minuten ein Polizist stoppte, überredete er diesen, die gesamte, reichlich riskante Aktion für eine Videoaufzeichnung zu wiederholen.

Bekanntheit erlangte aber auch ein Projekt in Lima, bei dem Alÿs eine Sanddüne von einem halben Kilometer Länge von 500 Freiwilligen um exakt zehn Zentimeter versetzen ließ. When Faith Moves Mountains (2002) reflektierte die soziopolitische Situation in Peru – die Aussichtslosigkeit in einem Land, das lange von einer Diktatur beherrscht worden war. Auch hier spielte der Austausch mit der Umgebung die entscheidende Rolle.

Postkartengroße Gemälde

In der Secession zeigt der 1959 in Antwerpen geborene Künstler nun eine andere, auf gewisse Weise introvertiertere Seite. Die Ausstellung Le temps du sommeil (dt. "Die Zeit des Schlafes"), die Donnerstagabend unter dem Label Vienna Art Week respektive deren Motto "Seeking Beauty" eröffnet wird, konzentriert sich auf einen malerischen Zyklus Alÿs' mit ebendiesem Titel. Im Zentrum stehen, neben zwei Videos und einem Objekt, 111 etwa postkartengroße Gemälde, die durch kurze Texte "verknüpft" sind. In regelmäßigen Abständen die Wand entlang gehängt, könnte man die Holztäfelchen auf den allerersten Blick für eine minimalistische Rauminstallation halten.

Tatsächlich breitet sich hier ein höchst erforschenswerter Bilderkosmos aus, den Alÿs abseits seiner Aktionen seit 1996 hegt und pflegt. Während die Anzahl der Täfelchen nämlich fixiert ist, entwickelt Alÿs seine Bilderwelt sozusagen "nach innen hinein" weiter: Immer wieder überarbeitet er Bilder, fügt hinzu, nimmt weg. Bisweilen übermalt er die kleinen Holzplatten auch komplett.

Das Bauprinzip der Bilder ist gleichbleibend: Auf braunem Grund öffnen sich blasenartige Fenster in Szenerien, die sich bevorzugt auf grünen Wiesen oder zwischen Baumstämmen abspielen. Winzige, ungemein fein gemalte Figürchen – oft Anzugträger – führen absurde Handlungen aus. Hier reiten zwei "Businessmen" wie Hexen auf demselben Schnörkel, dort schubst ein Schwimmender einen Würfel im Wasser vor sich her. Einer, der mit einer Pappkiste auf dem Kopf schlafzuwandeln scheint, wird von einem Hund in den Hosenboden gebissen. Außerhalb der Sichtblasen hat Alÿs Skizzen oder Textnotizen gesetzt – und die "Zeitstempel" etwaiger Überarbeitungen.

Eine geheime Ordnung

In puncto Rätselhaftigkeit – sowie angesichts der Skelette, die Alÿs zwischenzeitlich auftreten lässt – könnte man sich von dieser unergründlichen Bilderwelt an den Codex Seraphinianus erinnert fühlen. In diesem Lexikon breitete der Italiener Luigi Serafini 1982 eine Sphäre eigenartiger Mischwesen aus, die er in einer eigens erfundenen Schrift erläuterte. Und jedenfalls das Gefühl, einer geheimen Ordnung auf der Spur zu sein, die sich letztlich immer entzieht, könnte einen auch gegenüber Le temps du sommeil ereilen: einer Ordnung der Gesten, aber auch der Dinge. Wiederkehrende Zeichen sind etwa Menschen verbindende (Gummi-)Seile und Stäbe, aber auch Tiere.

Als Eskapismus sollte man Alÿs' überwältigendes "work in progress" jedoch nicht missverstehen. Tatsächlich ist die Arbeit nämlich auch ein "Notizbuch" des Künstlers: Die merkwürdigen Handlungen, die hier zu entdecken sind, referenzieren immer wieder auf Aktionen, die der Künstler schon ausführte, aber auch auf solche, die (bisher) nur Ideen sind. Dasselbe gilt für die zwischen die Bilder gestellten Texte, die zwar da und dort Beziehungen zu den dargestellten Szenen unterhalten könnten, die Unergründlichkeit dieser fließenden, organischen Bilderwelt, die im "Hintergrund" des Alÿs'schen Schaffens blüht und welkt, jedoch eher vergrößern denn verringern. (Roman Gerold, 17.11.2016)