Hätten Sie mich vor einer Woche gefragt, ob ich glaube, dass man gleichzeitig euphorisch und doch zutiefst deprimiert sein kann, hätte ich geantwortet, dass ich mir das nicht vorstellen kann.

Aber dann kam dieser Sonntag. Und ziemlich genau um halb zehn Uhr am Vormittag erlebte ich genau das: die Dualität von Jubel und Tristesse – an einem Ort; zur selben Zeit; aus einem Grund.

Ich war in Athen. Und gegen halb zehn Uhr betrat ich das Panathinaikos-Stadion. Wobei "betrat" nicht stimmt: Ich lief ein – um es pathetisch-großspurig zu sagen.

Denn dramatischer, klassischer, epochaler und emotionaler als hier kann ein Zieleinlauf nicht sein: Dort, wo alles, was sich rund um den Begriff Marathon versammelt – Legenden, Geschichte und Wahrheit ebenso wie Mythos, Lügen und Propaganda –, seinen Ursprung nahm, ins Ziel zu laufen, ist kaum zu toppen. Nicht, wenn man gern läuft.

Ich war selig: Was gibt es Schöneres, als beim Athen-Marathon ins Ziel zu kommen?

Ich war verzweifelt: Ja, ich war gelaufen. Ja, auf der Medaille würde das M-Wort stehen. Aber: Nein, das, was ich hier soeben gelaufen war, war trotzdem kein Marathon.

Foto: Thomas Rottenberg

Der Reihe nach: Ich bin eingeladen worden. Die beiden Griechenland-Marketingorganisationen "Visit Greece" und "Discover Greece" bitten alle Jahre im November laufaffine Journalisten nach Athen. Schließlich kann man da ein anderes typisches Griechenlandbild zeichnen und zeigen, als die beiden sonst typischen Griechenlandbilder von Sonne, Strand und Meer oder dem, was wir in der Schule (hoffentlich) über die Wiege von Kultur, Demokratie und sonst noch allerlei Gutem, Wahrem und Schönem gelernt haben.

Foto: Thomas Rottenberg

Denn im November wird in Athen Marathon gelaufen. Der Lauf ist die zeitgenössische Interpretation des im Grunde tragischen Laufes eines gewissen Herrn Philippides (wahlweise auch: Thersippos, Eukles oder Pheidippides), den die Legende die Kunde vom Ergebnis einer tatsächlichen Schlacht, die vermutlich am 12. September 490 vor Christus stattgefunden hat, von Marathon nach Athen bringen lässt. Um ebendiese Geschichte dann ein bisserl weiter als 42,195 Kilometer vom Austragungsort entfernt wieder zu erzählen, hatte man meine Kollegin Natascha Marakovits (sie schreibt für den "Kurier" und bloggt bei RunInc) und mich nach Athen geholt. Und während es in Wien null Grad hatte und so richtig grausig war, genossen wir bei mehr als 20 Grad das Rundumprogramm.

Foto: Thomas Rottenberg

Auch auf die Gefahr hin, Sie jetzt zu langweilen, darf ich hier kurz auf die Geschichte des Marathons eingehen: Den Athen-Marathon gab es heuer zum 34. Mal. Glaubt man den Veranstaltern, läuft man dabei exakt jene Strecke, die Philippides (bleiben wir der Einfachheit halber bei diesem Namen) 490 Jahre vor Christi Geburt gejoggt ist, um den Athenern zu verkünden, dass man die Perser bei Marathon geschlagen habe – und um nach getaner Berichterstattung umgehend auf dem Areopag sein Leben auszuhauchen.

Die Strecke von Marathon nach Athen ist in etwa 42 Kilometer lang. Nur ist sie Philippides (vermutlich) nie gelaufen: Der Bote lief – glaubt man Herodot – nämlich vor der Schlacht. Von Athen nach Sparta. Und bat dort – vergeblich – um Hilfe. Erst viel später wurde daraus die irgendwie positivere Legende vom Verkünder des Sieges (mal abgesehen vom Tod des Boten).

Tatsächlich dürfte der Lauf von Marathon nach Athen 490 vor Christi jedoch kein Solo gewesen sein, sondern eine Massenveranstaltung: Weil die Athener nach der Schlacht mehr an eine List als an einen Sieg über die persische Armee glaubten, ging es im Laufschritt heim. In Rüstung und Waffen – mehrere tausend Mann. Heißt es.

Foto: Marakovits

Knappe 2.500 Jahre später ist das aber nur noch Folklore. So wie die Geschichte, wie es zu der heutigen Distanz gekommen war. Egal. Denn Marathon ist Marathon – und in Griechenland ist man stolz darauf, trotz Wirtschafts- und Flüchtlingskrise heuer zum 34. Mal zu jenen Städten zu gehören, in denen Laufen, Laufevents und Lauftourismus längst zu einem wesentlichen Image-, Wirtschafts- und Tourismusfaktor geworden sind. Blöd wäre man, eine Sportveranstaltung wie diese an einem Ort wie diesem nicht mit Geschichte und Legende zu verquicken: Der Moment, wenn man ins Panathinaikos-Stadion einbiegt, wäre an sich schon ein Hammer bei jedem Lauf.

Aber mit all dem Drumherum verbrämt, wird daraus dann eben etwas ganz, ganz Eigenes. Etwas, das jeden Tropfen Schweiß, jeden Fluch und alle Anstrengung wert ist. Und das vergessen lässt, dass der Marathon von Marathon kein leichter Marathon ist – wenn ein Marathon überhaupt leicht sein kann: Von Marathon nach Athen geht es nämlich stetig und mitunter recht steil bergauf.

Foto: Thomas Rottenberg

Dennoch waren auch heuer wieder mehr als 17.500 Läuferinnen und Läufer aus insgesamt 105 Nationen für den Klassiker angemeldet. Ein Rekord – aber noch längst nicht alles, was sich an diesem Tag laufend durch Athen bewegt: Insgesamt hofften da nämlich am Sonntag mehr als 50.000 Menschen, durch den Zielbogen im Stadion zu kommen: So wie in vielen anderen Städten auch ist der eigentliche Marathon nämlich nur die Spitze eines Eisbergs, dessen Fundament aus zigtausenden Volksläuferinnen und Volksläufern besteht, die hier entweder einen – Fünf- oder einen Zehn-Kilometer-Lauf abwickeln. Und genau hier komme ich mit meiner euphorischen Depression ins Spiel: Auf meiner Medaille steht nämlich das Wort "Marathon" – aber ich bin nur den Zehner gelaufen. Weil … (aber die Geschichte von meiner durch eine saublöde und noch lästigere Verletzung komplett verkackten Langstreckensaison will ich hier nicht schon wieder aufwärmen müssen).

Foto: Thomas Rottenberg

Freilich: Während man anderswo – hallo Wien! – die Langstreckenläufer mit zwischen ihnen herumwuselnden Volksläufern quält, um aus einem sonst mehr als mageren Anblick fette "Marathon"-Bilder zu generieren, hat man derlei in Athen nicht nötig: – Fünf- und Zehn-Kilometer-
Läufer kommen nicht nur den Marathonis nicht in die Quere, sondern werden in mehreren Etappen und nach Event getrennt so schlau ins Rennen geschickt, dass es nicht einmal da zu echten Überlappungen kommen kann.

Möglich macht das unter anderem ein fast schon archaisch streng anmutendes Startblockregime: Wer im falschen Block startet, wird disqualifiziert. Gnadenlos. Klingt fies – ist aber bei so großen Events vermutlich das einzige Mittel, um das Feld so am Laufen zu halten, dass alle auf ihre Kosten kommen.

Foto: Thomas Rottenberg

Mich hatte man in den zweiten Block gesetzt. Das passte gut: Die Elite war vor dem Einser losgeprescht. Dahinter kamen Ehrgeizler und die ambitionierten Hobbyläufer. Und dann schon ein Mix aus Jedermann/frau-Laufvolk: Wenn zwischen den Blöcken ein paar Minuten gewartet wird, streckt sich das Feld dann so rasch in die Länge, dass, wer es wirklich eilig hat, zügig und ohne all zu viel Hakenschlagen nach vorn kommt.

Die, denen es nicht so pressiert, können den Lauf genießen. Und sich mit dem Gedanken trösten, dass es auf der Langstrecke zwar sicher auch sehr fein wäre, es aber schon seine Gründe haben wird, wenn Zeus, der Göttervater, sich mit dem Zehner begnügt.

Foto: Thomas Rottenberg

Abgesehen davon ist so ein Zehner ja auch nichts Ehrenrühriges oder etwas, wofür man sich schämen müsste. Ganz im Gegenteil. Volksläufe sind fein. Sie machen Spaß – auch, weil sich auf diesen Distanzen jeder auf seine Art die Kante geben kann: Vollgas – oder gechillt. Als Sightrunner genauso wie als Kinderwagen- oder Rollischieber (wobei dieser Rolli auf der Volldistanz unterwegs war – und zwar ziemlich unpackbar flott). Mit Kindern oder Hunden – oder mit dem Blick stur auf die Fersen des Vordermannes gerichtet, der optimalen Bein- und Atemtechnik und einer ausgeklügelten Strategie samt einer dem Rennen vorausgehenden Streckenkunde.

Wobei sich Letzteres vorher zu Gemüte zu führen auch beim Zehner in Athen kein Fehler ist: Die Strecke ist nämlich alles andere als flach.

Daran, zwischendurch Spaß zu haben, hindert das aber niemanden.

Foto: Thomas Rottenberg

Kurz und gut: Ja, auch der Zehner in Athen ist die Reise wert. Eben wegen des Ziels. Dazu braucht man eigentlich gar nicht zu laufen: Dieses Stadion hat Natascha und mir schon am Tag vor dem Lauf, als wir als ganz normale Touristen hierher kamen und – okay, das sind die kleinen Privilegien des Journalisten – während des Aufbaus hinein durften, den Atem geraubt. Umso toller war es, als ich hier nach nicht ganz einer Stunde Laufen ankam – und umso noch viel toller, wusste ich, würde es für meine Kollegin sein: Die war nämlich auf der Volldistanz angetreten.

Foto: Thomas Rottenberg

Doch bis dahin war es für sie noch ein weiter Weg – und eine noch längere Zeit. Unsere Gastgeber hatten uns im Hilton einquartiert. Nicht nur Fünf-Sterne-nobel, sondern auch ideal, um den Lauf zu beobachten: Ich hatte nach meiner Rennerei genug Zeit zu duschen und gemütlich auf der Hotelterrasse zu frühstücken, bis der Marathon-Führende direkt unter mir vorbeigelaufen ist. Zwei Stunden und sieben Minuten zeigte die Uhr am Führungsfahrzeug, als Benson Kipruto vorbeiflog: Das Hilton liegt nicht ganz zwei Kilometer vom Ziel entfernt, rund einen Kilometer vor der Ziellinie wurde Kipruto aber von seinem kenianischen Landsmann Luka Rotich einge- und überholt. Rotich siegte in 2:12:49. Kein Streckenrekord – aber angesichts von Sonne und Wind auf dieser Strecke auch für Profis eine Superzeit.

Foto: Thomas Rottenberg

Zu diesem Zeitpunkt hatte Natascha Marakovits gerade ein paar Kilometer mehr als die Halbmarathondistanz in den Beinen. Und lag damit im Feld der Normalsterblichen alles andere als schlecht: Natascha ist eine versierte und erfahrene Marathon- und Langstreckenläuferin, die erst vor sieben Wochen in Berlin gelaufen ist. Die meisten Hobbyläufer würden nach so einer kurzen Pause alles lieber tun als gleich noch einen vollen 42er zu machen – nur: Wenn man die Chance bekommt, bei einem Traumlauf wie Athen an den Start zu gehen, denkt man dann vielleicht doch nochmal drüber nach. Und tut es auch, wenn nicht wirklich gravierende Gründe dagegen sprechen – egal wie vernünftig das scheinen mag.

Ich gönnte meiner Kollegin und Freundin diesen Lauf – aber das hinderte mich nicht daran, sie von ganzem Herzen zu beneiden.

Foto: Marakovits

Als die Führenden beim Hilton vorbeigekommen waren, hatte ich auf die Uhr gesehen: Ab in etwa eineinhalb Stunden könnte ich mit Natascha rechnen.

Und auch wenn jeder und jede beim Laufen jeden Schritt selbst und allein machen muss, weiß ich, dass es alles andere als egal ist, ob man dabei angefeuert wird: Publikum entlang der Strecke ist fein. Menschen, die einen namentlich anfeuern, sind noch feiner. Ich rate jedem und jeder, sich den eigenen Namen fett aufs Shirt zu schreiben – so idiotisch und pathetisch das auch scheinen mag.

Und: Es hilft, wenn da plötzlich jemand ein paar Meter neben dir läuft, der dich kennt, dich aufmuntert, dir sagt, dass du großartig aussiehst und du dieses Rennen rocken wirst. Das beflügelt. Mich jedenfalls. Und auch Natascha.

Foto: Thomas Rottenberg

Ich hatte Natascha aber noch etwas anderes mit auf den Lauf gegeben: meine zweite, kleine Gopro. Die Kamera ist fürs Laufen perfekt: Auf "Dauerfeuer" gestellt und alle paar Minuten eingeschaltet, schießt sie jede halbe Sekunde ein Foto. Nicht nach dem Scharfschützenprinzip echter Fotografen, sondern nach der Methode "Pumpgun": Irgendeine Kugel trifft.

Foto: Marakovits

Denn auch wenn mehr als 90 Prozent der 4.000 Bilder eines Laufes verwackelt, unscharf oder uninteressant-redundant sind, lässt sich aus dem Rest dann eine schöne, stimmungsvolle und sehr subjektive Geschichte basteln.

Die von Natascha Marakovits finden Sie in ihrem Facebook-Album. Sie ist eine von etwa 17.000 ähnlichen und doch absolut einzigartigen Erzählungen von diesem ebenso wundervollen wie anstrengenden Lauf.

Foto: Marakovits

Und jede davon ist für mich Aufforderung, Herausforderungen und Einladung, es hier noch einmal zu versuchen: Ich weiß, wie es sich anfühlt, beim Athen-Marathon im Panathinaikos-Stadion durchs Ziel zu laufen – aber ich will wissen, wie es sich anfühlt, wenn man hier dann nicht einfach einen Marathon-Begleitevent gefinisht hat – sondern einen Marathon. Nicht irgendeinen – sondern den, mit dem alles begann.

Auch wenn das nur eine Legende ist.

Mehr Geschichten vom Laufen im Allgemeinen und von Rottenberg und Marakovits in Athen gibt es unter www.derrottenberg.com


Hinweis im Sinne der redaktionellen Leitlinien: Die Reise war eine Einladung von "Visit Greece" und "Discover Greece" und wurde vom Athen-Authentic-Marathon, Aegean Airlines und dem Hilton Athen unterstützt.

Foto: Thomas Rottenberg