Der österreichische Supergroßmeister Markus Ragger analysiert.

Österreichischer Schachbund

Magnus Carlsen ging in der dritten Partie mit Weiß ins Spiel.

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10.Te2: Ist dem Weltmeister die Hand ausgerutscht?

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35.cxd3: Entscheidet der weiße Mehrbauer die Partie?

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Schlussstellung: Der schwarze h-Bauer zwingt Carlsen, das Remis zu forcieren.

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New York – Zur dritten Partie kommt Magnus Carlsen fünf Minuten zu früh. Schon nach der zweiten Runde hatte der Weltmeister erklärt, er würde auf den bevorstehenden Ruhetag lieber verzichten und gleich mit dem nächsten Spiel fortfahren. Anzeichen von Ungeduld, die darauf hindeuten, dass der Norweger sich für diese Partie vorgenommen hat, die Glacéhandschuhe auszuziehen und in den Infight zu gehen.

Als Sergej Karjakin sich ans Brett setzt, sind es noch ein, zwei Minuten bis zum Partiebeginn. Beide Spieler scheinen heute eine andere Spannung mit an den Tisch gebracht zu haben. Carlsen sitzt leicht vorgebeugt, wie ein Tiger vor dem Sprung, Karjakins Gesicht verrät einen Anflug überwunden geglaubter Nervosität. Die Kontrahenten sind nur ein Schachbrett weit voneinander entfernt, aber keiner blickt dem anderen auch nur eine Sekunde in die Augen. Endlich tritt der Schiedsrichter an den Tisch, setzt die Uhr des Weißen in Gang.

Diesmal kein Trompowsky

Carlsen spielt 1.e4! Diesmal kein Trompowsky, auch nicht das von Karjakin geliebte Damenindisch. Karjakin reagiert wie zuletzt Carlsen und schiebt ebenfalls seinen Königsbauern ins Zentrum. Wenige Züge später steht die "Berliner Mauer" am Brett, jenes schwer zu knackende Defensivsystem, das der Norweger in Partie 2 mit Schwarz noch vermieden hatte.

Im 10. Zug entkorkt der Weltmeister die bisher größte Überraschung dieser WM. Als habe er sich von Karjakins langsamem Turmmanöver aus Partie 2 inspirieren lassen, beordert Carlsen seinen Königsturm im 10. Zug nicht, wie für diese Stellung typisch, auf das Feld e1 zurück, sondern stellt ihn auf e2 ab. Ein Zug, der auf den ersten Blick nach einer Fehlleistung aussieht, wie sie beim Online-Blitzschach manchmal vorkommt, wenn einem der Spieler die Maus ausrutscht. In New York aber wird mit echten Figuren gespielt, und die Hand des Weltmeisters hat nicht gezittert. Was will Carlsen mit dieser Kakophonie?

Karjakin jedenfalls taucht für ganze 25 Minuten ab, um es herauszufinden, bevor er mit dem natürlichsten Zug antwortet. Aber was ist das: Carlsen schiebt als Reaktion den Turm von e2 nach e1 zurück – auf ebenjenes Feld, das er im Zug zuvor noch verschmäht hatte! Eine Provokation: Ist der Weltmeister tatsächlich der Meinung, er könne seinem Gegner in einer offenen Stellung ein ganzes Entwicklungstempo schenken und dabei auf Vorteil hoffen?

Einige Züge später schwingen sich alle mitrechnenden Computerprogramme auf "0.00" ein – das mathematische Äquivalent zu "tot remis" –, und auch die Kommentatoren sind bald der Meinung, dass wir kurz vor dem dritten wenig aufregenden Unentschieden in Folge stehen. Wieder ist die Stellung völlig symmetrisch, wieder ist nicht in Sicht, wie einer der beiden Spieler sich hier noch einen Vorteil verschaffen will.

Carlsen gibt keine Ruhe

Nur Carlsen spielt bei dieser Analyse nicht mit. In jedem Zug stellt er seinem Gegenüber neue lästige Fragen, gibt Schwarz permanent Gelegenheit, sich im Variantengestrüpp der nur scheinbar simplen Stellung zu verheddern und in Nachteil zu geraten. Es sind, man weiß es eigentlich, genau diese harmlosen Stellungen, in denen der Norweger am gefährlichsten ist.

Im 23. Zug ist es schließlich so weit: Karjakin zieht seinen Läufer zurück, um ihn vor dem Angriff durch Carlsens Springer in Sicherheit zu bringen. Aber jetzt stehen die weißen Figuren auf einen Schlag aktiver.

Und der Weltmeister lässt nicht locker. Gerade als es so aussieht, als ob Karjakin Gelegenheit hätte, mit seinem Turm auf der offenen a-Linie zum Gegenangriff überzugehen, stabilisiert sich Carlsens Vorteil: Bei voller Stellungskontrolle gewinnt Weiß einen Bauern, König und Läufer von Schwarz kleben am oberen Brettrand fest, während Weiß in Ruhe seine Figuren zentralisiert.

Karjakin läuft die Zeit davon

Aus langweiliger Symmetrie ist plötzlich ein hochkomplexes Endspiel entstanden, in dem das Remis in weite Ferne gerückt scheint. Jetzt muss Karjakin seine Zähigkeit beweisen, muss mit präzisen Manövern versuchen, die aktiven Figuren Carlsens an die Verteidigung des Mehrbauern zu binden. Unbarmherzig tickt dem Herausforderer die Uhr Minute für Minute davon, während er das Brett nach der einen vielleicht rettenden Zugfolge absucht.

Und siehe da: Gerade als kaum mehr jemand einen Heller auf den Herausforderer zu wetten bereit ist, lächelt die Schachgöttin dem Russen zu. Der Weltmeister findet für einmal nicht die zwingendste Fortsetzung, erlaubt Karjakin mit einem unbedachten Frontalschach im 42. Zug eine Atempause.

Noch einmal allerdings weigert sich Carlsen, sich in das nun wieder unvermeidlich scheinende Remis zu schicken, lässt seine verbliebenen Figuren über das Brett kreiseln, um Karjakin in einen letzten Fehler zu treiben. Und nach der zweiten Zeitkontrolle im 60. Zug – es sind bereits fast sechs Stunden gespielt – sieht es tatsächlich so aus, als würde der Weltmeister den Sack doch noch zumachen. Denn Karjakin verkalkuliert sich in komplizierter Lage, muss seinen Läufer für zwei Bauern opfern.

Dramatischer Schluss

Noch einmal läuft dem Herausforderer die Zeit davon. Aber als erneut alles auf einen baldigen Sieg Carlsens hindeutet, gelingt es Karjakin mit nur noch drei Minuten Restbedenkzeit, eine studienartige Rettung aufs Brett zu zaubern. In einem der dramatischsten Schlussspiele der jüngeren WM-Geschichte muss sich der sichtlich frustrierte Weltmeister nach sechs Stunden und 40 Minuten Gesamtspielzeit mit Remis durch Stellungswiederholung begnügen.

Ob Carlsen dieser vergebene Sieg nachhängt oder Karjakin die schwierige und lange Verteidigung an die Substanz gegangen ist, darüber wird die vierte Partie am Dienstag Aufschluss geben. Der Herausforderer führt die weißen Steine, es steht 1,5 zu 1,5. Die dritte Partie aber wird ihren Platz in der Schachgeschichte finden, so viel steht bereits fest. (Anatol Vitouch, 15.11.2016)

Die Notation der dritten Partie:
Weiß: Magnus Carlsen (Norwegen)
Schwarz: Sergej Karjakin (Russland)

1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.Lb5 Sf6 4.O-O Sxe4 5.Te1 Sd6 6.Sxe5 Le7 7.Lf1 Sxe5 8.Txe5 O-O 9.d4 Lf6 10.Te2 b6 11.Te1 Te8 12.Lf4 Txe1 13.Dxe1 De7 14.Sc3 Lb7 15.Dxe7 Lxe7 16.a4 a6 17.g3 g5 18.Lxd6 Lxd6 19.Lg2 Lxg2 20.Kxg2 f5 21.Sd5 Kf7 22.Se3 Kf6 23.Sc4 Lf8 24.Te1 Td8 25.f4 gxf4 26.gxf4 b5 27.axb5 axb5 28.Se3 c6 29.Kf3 Ta8 30.Tg1 Ta2 31.b3 c5 32.Tg8 Kf7 33.Tg2 cxd4 34.Sxf5 d3 35.cxd3 Ta1 36.Sd4 b4 37.Tg5 Tb1 38.Tf5+ Ke8 39.Tb5 Tf1+ 40.Ke4 Te1+ 41.Kf5 Td1 42.Te5+ Kf7 43.Td5 Txd3 44.Txd7+ Ke8 45.Td5 Th3 46.Te5+ Kf7 47.Te2 Lg7 48.Sc6 Th5+ 49.Kg4 Tc5 50.Sd8+ Kg6 51.Se6 h5+ 52.Kf3 Tc3+ 53.Ke4 Lf6 54.Te3 h4 55.h3 Tc1 56.Sf8+ Kf7 57.Sd7 Ke6 58.Sb6 Td1 59.f5+ Kf7 60.Sc4 Td4+ 61.Kf3 Lg5 62.Te4 Td3+ 63.Kg4 Tg3+ 64.Kh5 Le7 65.Se5+ Kf6 66.Sg4+ Kf7 67.Te6 Txh3 68.Se5+ Kg7 69.Txe7+ Kf6 70.Sc6 Kxf5 71.Sa5 Th1 72.Tb7 Ta1 73.Tb5+ Kf4 74.Txb4+ Kg3 75.Tg4+ Kf2 76.Sc4 h3 77.Th4 Kg3 78.Tg4+

Damit steht es 1,5 zu 1,5.