In den Tagen nach dem Wahlsieg des rechten Sprücheklopfermilliardärs Donald Trump über die gesellschaftspolitisch deutlich linksliberale Demokratin Hillary Clinton glaubten in Europa viele, es könne nur eine plausible Reaktion geben: Irritation, Wut, dass ein Mann US-Präsident wird, der im Wahlkampf bedenkenlos mit Lügen, rassistischen Bemerkungen, frauenfeindlichen Äußerungen, mit Grobheiten gegenüber EU- und Nato-Partnern auftrat. Höfliche Distanz der Regierungen würde folgen.

Zunächst schien sich das zu bestätigen. Außer den Rechtspopulisten um Marine Le Pen, Geert Wilders, Heinz-Christian Strache oder Nigel Farage, die selbst mit populistischer Islam- und Ausländerfeindlichkeit gegen "diese EU" wetterten, zeigte sich keine Regierung erfreut. Nur Viktor Orbán war, wie so oft, die Ausnahme. Dafür warf sich Angela Merkel umso mehr ins Zeug: Sie sei zu enger Zusammenarbeit mit den USA "bereit", wenn Trump Demokratie und Grundrechte achte. So von oben herab hatte sich wohl noch kein deutscher Kanzler gegenüber einem künftigen US-Präsidenten geäußert. Europa, konnte man meinen, sei dabei, sich vom jahrzehntelang dominierenden Partner in Amerika zu emanzipieren: moralisch und politisch. Weit gefehlt. Nur eine Woche später sieht die Welt schon etwas anders aus.

Zum einen deutet sich an, was Erfahrungen bei früheren Machtwechseln von einem Demokraten zu einem Republikaner nahelegen: Sprüche im Wahlkampf sind das eine. Im wirklichen Leben ist Pragmatismus angesagt, ist der mächtige US-Präsident in ein Netz von "Checks and Balances" eingebunden, ist er an die Kooperation mit beiden Kammern des Kongresses, mit der Republikanischen Partei gebunden.

So war das 1980, als – shocking – der Filmschauspieler Ronald Reagan dem erfolglosen Jimmy Carter folgte; oder 2000, als George W. Bush dem insbesondere von den Europäern gefeierten Reformer Bill Clinton folgte.

Die erste (alte) Lektion, die EU-Partner (und auch die Doppelmitglieder in der Nato) also ziehen sollten, lautet: Sie können – Trumps Temperament hin oder her – in Grundfragen der Sicherheit durchaus mit Kontinuität rechnen. Aber es wird (noch) weniger US-Engagement in Europa geben, eine Entwicklung, die Barack Obama schon vor Jahren ohnehin eingeleitet hat. Das wird die Europäer viel mehr Geld kosten (durch Umrüstung), mehr eigenes Engagement in der Welt brauchen (wenn man an Energie-, Klimaschutz- oder Außenhandelspolitik denkt).

So gewöhnungsbedürftig die "neue" konservative Politik des künftigen US-Präsidenten auch wirtschaftlich sein mag, damit können und müssen sich die europäischen Partner arrangieren. Theoretisch. Denn noch viel schwieriger wird die zweite Lektion sein, die Trump den Europäern gerade – unfreiwillig – erteilt: Er legt die Uneinigkeit der EU-Partner schonungslos offen. Dass der britische Außenminister Boris Johnson, der "Mister Brexit", sich sofort auf US-Seite schlug, überrascht nicht. Aber es zeigt sich schon, dass auch Polen, die Balten, Ungarn, die Osteuropäer generell, um Trumps Zuwendung buhlen – anders als Frankreich, das eine neue Profilierungschance sieht.

Es gibt viele Bruchlinien in Europa. Sie werden nun sichtbar, wie 2000, als Bush an die Macht kam, der 2003 den Irakkrieg begann. Spätestens da waren die Europäer in zwei Lager gespalten, in Tauben und Falken. 2016 ist die Lage noch gefährlicher, mit all den Krisen und Kriegen rund um Europa. (Thomas Mayer, 14.11.2016)