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Die Bauchspeicheldrüse ist die Energiezentrale des Körpers. Eine wichtige Rolle spielen die Langerhanszellen (lila), die Insulin produzieren. Das Ziel: Nährstoffe ins Blut bringen.

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Es geht darum, mit Patienten eine Vision davon zu entwickeln, was sie vom Leben möchten, sagt Helmut Brath.

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STANDARD: Diabetes ist eine komplexe Erkrankung. Wie erklären Sie sie Patienten?

Brath: Diabetes ist weit mehr als nur eine Erhöhung des Blutzuckers. Wir wissen, dass der gesamte Stoffwechsel beeinträchtigt wird, auch Cholesterin und Blutdruck. Das wiederum hat Auswirkungen auf die Blutgefäße, konkret entsteht Arterienverkalkung mit allen Folgen.

STANDARD: Diabetes tut nicht weh. Das erschwert Ihre Arbeit. Verstehen Patienten eigentlich, was ihr Problem ist?

Brath: Ich verwende gerne das Bild eines Baumes. Die Wurzeln sind mit dem Lebensstil vergleichbar. Sie nähren die verschiedenen Zweige, sie stehen für erhöhten Blutzucker, Blutdruck, Blutfette. Wenn man nicht rechtzeitig handelt, bekommt dieser Baum böse Früchte wie Herzinfarkt, Schlaganfall, aber auch den Verlust von Gliedmaßen, Nierenversagen oder Erblindungen. In der Therapie geht es darum, den Lebensstil wieder gesundheitsfördernd werden zu lassen, und darum, alle Zweige des Baumes gleichzeitig zu behandeln, und das rechtzeitig.

STANDARD: Was ist die große Herausforderung fürs System?

Brath: Wir haben in Österreich circa 600.000 Menschen mit Diabetes, die Anzahl der Erkrankungen steigt. Die Versorgung heute und in Zukunft macht große Sorgen. In der österreichischen Diabetesgesellschaft denken wir sehr viel über neue Konzepte nach.

STANDARD: Wie sieht die Versorgung aktuell aus?

Brath: Wir haben in Österreich das Programm "Therapie aktiv", das in den Praxen von Allgemeinmedizinern angeboten wird. Diabetes ist gut behandelbar. Wir denken, dass der Großteil der Patienten in diesem Programm gut aufgehoben ist. Bei Problemen werden die Patienten an Spezialambulanzen überwiesen. In der Ambulanz der Wiener Gebietskrankenkasse zum Beispiel sehen wir circa 100 Patienten am Tag.

STANDARD: Warum genau brauchen diese Patienten eine Spezialambulanz?

Brath: Weil sie Probleme haben, mit denen ein Allgemeinmediziner nicht mehr zurechtkommt. Etwa weil sie ihre Beine nicht mehr spüren oder weil sie häufig Unterzuckerungen haben, die mit herkömmlichen Medikamenten nicht in den Griff zu bekommen sind. Oder sie haben Schmerzen.

STANDARD: Wie häufig sind solche Komplikationen?

Brath: Von den 600.000 Menschen mit Diabetes in Österreich haben zehn bis 15 Prozent Komplikationen und brauchen intensivierte Aufmerksamkeit.

STANDARD: Und was brauchen Diabetiker im fortgeschrittenen Stadium?

Brath: Vor allem Zeit. Diabetes ist zwar ein medizinisches Problem, nur, die Umstände, die zu dieser Erkrankung führen, haben ihre Ursachen in unserem modernen Lebensstil. Wie jemand lebt, ist entscheidend, und eine Umstellung der Lebensgewohnheiten nicht immer leicht. Im interdisziplinären Team arbeiten Betroffene, Diätologen, Diabetesberaterinnen und Ärzte zusammen. Es geht um Wissen und Motivation zur Therapie, um die Optimierung des täglichen Speiseplans und um eine bestmögliche medikamentöse Einstellung. Das kostet aber Zeit, und die ist knapp.

STANDARD: Was ist so ungesund am modernen Lebensstil?

Brath: Die Menschen in der westlichen Welt machen zu wenig Bewegung, essen zu viel Zucker, zu viel Fastfood, zu viel Fleisch. Sie haben zu viel Stress. Auch die Verpackung von Lebensmitteln kann eine Rolle spielen: Plastik und Aludosen haben Inhaltsstoffe, die Diabetes fördern. Das alles können wir nicht in Arztordinationen ändern. Wir brauchen Politik, Städteplaner, die Gehen und Radfahren fördern. Nur durch gesunde Rahmenbedingungen lässt sich die Zahl der Neuerkrankungen reduzieren.

STANDARD: Aber es werden doch nicht alle krank?

Brath: Es gibt Menschen, die die naturferne, westliche Lebensweise mehr beeinträchtigt als andere. Es ist wie beim Rauchen: Zigarettenkonsum verdreifacht das Risiko, Diabetes zu bekommen, aber nicht alle Raucher bekommen Diabetes.

STANDARD: Ist der Stoffwechsel einmal entgleist, inwieweit lässt er sich rückgängig machen?

Brath: Diabetes oder zumindest die Neigung zu Diabetes wird nicht mehr verschwinden. Aber es kann sich drastisch verbessern. Der Lebensstil ist entscheidend. Aber auch Medikamente sind wichtig und gut. In den letzten zehn bis 15 Jahren haben wir eine kleine Revolution bei Diabetesmedikamenten erlebt. Sie sind heute viel besser und haben weniger Nebenwirkungen. Vor 20 Jahren hatten von 10.000 Patienten noch 120 bis 150 einen Herzinfarkt, 2010 war es nur mehr 40 bis 50, also ein Drittel.

STANDARD: Wie belastend ist die Therapie?

Brath: Auch die Nebenwirkungen der Medikamente sind wesentlich weniger stark als früher, da hat sich viel verbessert. Wir in Österreich sind in der glücklichen Lage, dass Patienten notwendige Medikamente von den Krankenkassen auch zur Verfügung gestellt bekommen, wenn sie sie brauchen. Das ist bei weitem nicht überall der Fall.

STANDARD: Also keine Behandlung nach Schema F?

Brath: Wir haben Guidelines, nach denen wir behandeln. Aber jeder Patient ist einzigartig und braucht eine individuelle Therapie. Wichtiger als alles andere ist, dass jeder Patient zum Spezialisten seines eigenen Körpers wird.

STANDARD: Klingt nach einem eher sehr disziplinierten Leben?

Brath: Ich mag den Begriff der Disziplin nicht besonders. Ich denke, dass es eher darum geht, mit Patienten eine Vision zu entwickeln, was sie vom Leben möchten. Die meisten Ziele sind mit einem gesunden Körper leichter zu erreichen. Auf dem Weg dahin gibt es Dinge, die man dann häufiger, andere die man weniger häufig tun sollte. Somit ist Disziplin keine Lebenseinschränkung, sondern eine Maßnahme, um Ziele zu erreichen.

STANDARD: Was sind die größten Herausforderungen?

Brath: Wenn es um Lebensstil geht, brauchen wir Mediziner Zeit. Und die haben wir nicht, weil es immer mehr Kranke gibt. Umgekehrt ist aber auch der Zeitaufwand für Patienten enorm. Das beginnt bei den regelmäßigen Blutzuckerkontrollen und dem Vereinbaren von planmäßig wiederkehrenden Arztbesuchen. Gerade für Berufstätige kann das schon eine Herausforderung sein.

STANDARD: Inwiefern helfen standardisierte Behandlungen?

Brath: Diabetes ist so bunt und vielfältig wie die Menschen selbst. Und ja, wir haben gute Guidelines, doch sie müssen eben immer auch individuell angepasst werden. Wir in der Diabetesgesellschaft sind gerade dabei, personalisierte Konzepte zu entwickeln.

STANDARD: Nur der Vollständigkeit halber: Wie schaut die optimale Versorgung aus?

Brath: Patienten sollten alle drei bis sechs Monate eine medizinische Untersuchung haben. Diese erfolgt am besten beim Allgemeinmediziner, zum Beispiel im Rahmen des Betreuungsprogramms "Therapie aktiv". Ein Mal im Jahr sollte eine komplette Durchuntersuchung erfolgen, quasi eine Gesundenuntersuchung für Menschen mit Diabetes. Hierbei werden neben den Blutbefunden die Augen, die Füße, die Lunge und der Blutdruck kontrolliert, und es sollte ein EKG durchgeführt werden. Bei Problemen sollte die Behandlung von Diabetesspezialisten begleitet werden.

STANDARD: Wie sieht eine bestmögliche Patientenkarriere aus?

Brath: Eine frühe Diagnose ist für den Verlauf entscheidend. Patienten, die von Anfang an konsequent in der Behandlung sind, können die gleiche Lebensqualität und Lebenslänge wie Menschen ohne Diabetes erreichen. Dafür sollten Arzt und Patient individuelle Ziele vereinbaren und versuchen, sie durch Lebensstilmaßnahmen und Medikamente zu erreichen. (Karin Pollack, 15.11.2016)