Oft reicht trotz Arbeit das Geld nicht.

Foto: Getty Images/iStockphoto

Gütersloh – Der Anteil der Menschen, die trotz eines Vollzeitjobs von Armut bedroht sind, ist in Europa gewachsen. Laut einer am Montag vorgestellten Studie der deutschen Bertelsmann-Stiftung zur sozialen Gerechtigkeit ("Social Justice Index 2016") stieg ihr Anteil im vergangenen Jahr auf 7,8 Prozent, das wäre jeder 13. Vollzeitbeschäftigte. 2013 lag der Anteil noch bei 7,2 Prozent.

Der Aufschwung auf dem Arbeitsmarkt komme nicht bei allen an, urteilt die Stiftung. Zwar sei der Negativtrend der vergangenen Jahre bei der Bewertung der sozialen Gerechtigkeit in den 28 EU-Ländern gestoppt worden. Der Index, der 2014 mit 5,62 seinen Tiefpunkt erreicht hatte, stieg 2016 im EU-Schnitt auf 5,75. Vor der Wirtschaftskrise 2008 jedoch lag er noch bei 6,60. Immer noch sei mit 118 Millionen jeder vierte EU-Bürger von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht.

Niedriglohnsektor und atypische Arbeitsformen

Die Gründe sehen die Autoren der Studie im wachsenden Niedriglohnsektor und einer Spaltung der Arbeitsmärkte in reguläre und atypische Formen von Beschäftigung. Österreich liegt in der EU-Rangliste mit 6,67 knapp vor Deutschland auf Platz sechs. Den Spitzenplatz belegt Schweden mit 7,51, Schlusslicht bleibt Griechenland mit 3,66. Für die Studie werden jährlich anhand von 35 Kriterien sechs Bereiche beleuchtet, darunter Armut, Bildung, Arbeitsmarkt, Gesundheit und Generationengerechtigkeit.

EU-weit seien 25,2 Millionen (26,9 Prozent) Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. In den Krisenländern Griechenland, Italien, Spanien, Portugal sei dieser Wert sogar noch höher: Hier ist im Schnitt jedes dritte Kind (33,8 Prozent) von Armut bedroht. Die südlichen EU-Länder haben zusätzlich mit dem Problem einer hohen Jugendarbeitslosigkeit zu kämpfen. In Italien gehören fast ein Drittel der 20- bis 24-Jährigen (31,1 Prozent) dazu. In Griechenland (26,1 Prozent) und Spanien (22,2 Prozent) sind wie Werte nur geringfügig niedriger. Österreich hat mit 10,6 Prozent die nach Deutschland (7,2 Prozent) zweitniedrigste Jugendarbeitslosigkeit in der EU.

"Ziemlich erfolgreich"

Einen der "Erfolgsfaktoren für diese ziemlich erfolgreichen Arbeitsmarktdaten" sehen die Studienautoren in der österreichischen Sozialpartnerschaft, einen weiteren in der Tätigkeit des Arbeitsmarktservice. Das duale System der Lehrlingsausbildung trage ebenfalls dazu bei.

Auch wenn Österreich versuche, soziale Gerechtigkeit herzustellen, gebe es dennoch Herausforderungen. "Die Zahl der von Armut bedrohten Kinder und Jugendlichen ist in den vergangenen Jahren gestiegen (von 18,5 Prozent 2007 auf 23,3 Prozent 2014). Dagegen ist die Zahl der von Armut bedrohten Senioren von 18,6 Prozent 2009 auf 15,7 Prozent im Jahr 2014 gesunken", schreiben die Autoren. Darin zeige sich wie in anderen EU-Ländern eine wachsende Kluft zwischen den Generationen. Die Autoren weisen zudem auf die bescheidenen Ergebnisse Österreichs bei der Pisa-Studie hin, auch die mangelhafte Integration von Migrantenkindern und Kindern aus ärmeren Verhältnissen sei problematisch. Österreich liege außerdem bei Antidiskriminierungsmaßnahmen unter dem Durchschnitt.

Armutsrisiko wird nicht geringer

"Wir waren überrascht, dass trotz steigender Beschäftigung in Europa das Armutsrisiko nicht geringer wird", sagt Studienautor Daniel Schraad-Tischler. Die Autoren sprechen von einem "Europa paradox". Deshalb warnt Aart De Geus, der Vorstandsvorsitzende der Bertelsmann-Stiftung: "Ein Vollzeitjob muss nicht nur das Einkommen, sondern auch das Auskommen sichern. Ein steigender Anteil von Menschen, die dauerhaft nicht von ihrer Arbeit leben können, untergräbt die Legitimität unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung." (APA, red, 14.11.2016)