Um Spuren zu erkennen, braucht es Zeit. Im Bezirksbasketballverein Bağlar spielen seit Jahren einige Jungs aus der Nachbarschaft, aufgewachsen in Diyarbakır in Südostanatolien. Kurden in einer türkisch dominierten, politischen Gegenwart. "Gegenwart", das heißt für diese jungen Männer in erster Linie, Konsequenzen unmittelbar zu erfahren. Wenn diese Jungs auf Augenhöhe gegen türkische Mannschaften spielen, dann spielen sie auch gegen Schablonen an, gegen Blicke vom Publikum und Zurufe draußen vor der Halle, auf dem Weg zum Bus.

Sie versuchen sich gegen erspürte Widrigkeiten ein Selbstbewusstsein zu erringen, einen Sinn für Sichtbarkeit, Geltung, Respekt. Manchmal gelingt es, und da keimt Euphorie auf, es winkt vielleicht die nächste Liga, Budget und Mobilität. Doch oft gibt es Rückschläge. Als es schlecht läuft, wird ihr Trainer Gökhan Yıldırım einmal wütend rufen, das Spiel sei ein Krieg. Als 2011 türkische Flugzeuge 34 kurdische Jugendliche an der Grenze zum Irak töten, ganz in der Nähe der Stadt, schnürt das den Spielern den Atem ab. Wo Begeisterung war, treten Lähmung und Leere ein. Das Rennen wird zum Anrennen gegen Frustration und Schwere.

Geschichten vom Widerstand

Ein Dokumentarfilm von Berke Baş und Melis Birder beobachtet unter dem Titel "Bağlar" über Jahre diese idealistische, familiäre Gruppe von Freunden, protokolliert geduldige Versuche, sich im regulierten Raum des Spielfelds frei zu machen von realen und erlernten Ungleichheiten. Der Film war Anfang November als einer der ersten Filme von DOK Leipzig zu sehen, als Teil eines explizit politischen Themenschwerpunkts zur Türkei. Kuratorin des Programms war Özge Calafato, Politikwissenschafterin und Journalistin; sie präsentierte und diskutierte ihre Programme unter Schlagworten wie "Durchhalten", "Hartnäckiges Gedächtnis" und "Geschichten vom Widerstand".

Knapp 20 Beiträge entwarfen einen Denkraum in Dokumenten, Dokumentationen und Dokumentarfilmen. Die Filme zeichnen neben traditionsreichen und jungen Konfliktrealitäten auch immer wieder nach, unter welchen Bedingungen Kino in der Türkei entsteht und gezeigt wird. Scharfe künstlerische Handschriften erscheinen ebenso wie simpel zusammengeschnittenes Material. Eine Collage von Gesten, Milieus und Geschichten, die notwendige Spannungsfelder provoziert – notwendig, um aus kulturellen, politischen, sozialen, kapitalistischen und historischen Ebenen nicht versehentlich voreilige Schlüsse zu ziehen.

Grenzlinie als Grauzone

Die Geschichte von den Tötungen an der irakischen Grenze kehrte an anderer Stelle wieder, wie viele weitere Motive und geteilte Erinnerungen sich unter diesen Filmen immer wieder hinter diversen Schicksalen abzeichnen: "I Remember" von Selim Yıldız erzählt vom Schmuggeln. Vom Handeln vorbei an Autoritäten, das seit Generationen eine Notwendigkeit für die Bevölkerung in dem dortigen Gebiet Uludere darstellt. Es mangelt dort an Perspektiven. Die Grenzlinie zum Irak ist eine Grauzone. Türkische Truppen stehen Wache. Man spricht miteinander. "Der Hunger kennt keine Grenzen", meint ein aufgebrachter Einwohner des Dorfs Roboski zu einem Soldaten. Er verweigert sich autoritären Erklärungen: "Ich bin kein Politiker, und ich werde keine politische Sprache benutzen."

Dann die kurdischen Freiheitskämpferinnen, sie sind bildhaft und direkt in ihrer Wortwahl. "Distant ...", ein sorgfältig komponierter, elegischer Debütfilm porträtiert sie: "Oft habe ich mir gesagt, dass es Kameras für einen Film, einen Dokumentarfilm, überall in Kobane geben sollte. Denn egal wie viel du erzählst, es fehlt immer etwas." Zwischen den Gesprächen zeigt die Filmemacherin Leyla Toprak eine Tänzerin in Ruinen. Es ist dunkel, fast erinnert das an Horrorfilmbilder. In einer dystopischen Gegenwart sucht ihre Kamera nach Emanzipation, nach Antithesen zu Gewalt, Geschlecht und Kapitalismus. Narben sind bei dieser Suche unvermeidbar.

Im experimentellsten Film, "Colony", verschmelzen dann Landschaften und Traumata beim Gedenken an türkische und griechische Massengräber auf Zypern. Gesichter erscheinen bald riesenhaft, als Täler und Hügel, die über Dekaden geformt wurden. Bagger graben nach verschollenen Familiengeschichten. Hinter die Oberfläche zu blicken, das ist nie einfach. (Dennis Vetter, 11.11.2016)