Meister der Plansequenz und der fiebrig-nervösen Durchmessung der Welt: Kameramann Raoul Coutard, hier 2007 in Paris.

Foto: AFP/Demarthon

Paris – Es war, als ginge ein frischer Luftzug durch das Kino. Es verabschiedete sich aus den stickigen Studios und nahm die Straßen von Paris in Besitz. Die Filme der Nouvelle Vague wurden mitten unter den Passanten gedreht, mit kleinem Team und für ein Drittel der Budgets, die französische Filme damals verschlangen. Raoul Coutards Kameraarbeit in Außer Atem veränderte 1960 das Antlitz des Kinos. Er benutzte lichtempfindlicheres Material und eine handlichere Kamera (die er einmal in einem Kinderwagen versteckte), um Jean-Luc Godards Inszenierung eine ungeahnt kühne Freizügigkeit zu verleihen.

Unmittelbarkeit gelernt

Dieses Gespür für Unmittelbarkeit hatte er sich als Fotojournalist für Paris Match und Life in Indochina und an anderen Kriegsschauplätzen erworben. Im Kino debütierte er Mitte der 1950er mit Dokumentarfilmen und übertrug deren Erzählgestus elegant in die Fiktion. Von seinem zupackenden Stil sollten später auch Costa-Gavras' Politthriller Z und Das Geständnis profitieren. Neben Henri Decae wurde er zum prägenden Kameramann des jungen französischen Kinos. Coutard war der radikalere Bilderstürmer. Sein cholerisches Temperament war auf den Filmsets gefürchtet. Er kannte keine Scheu vor Überbelichtungen. Wie er das Tageslicht bändigte, es lenkte und filterte, hatte enormen Einfluss auf den europäischen Autorenfilm und das New Hollywood.

Einfachheit als Ziel

Sein erklärtes Ziel war die Einfachheit. Dieser Meister der ungeschnittenen Plansequenz schenkte der Kameraführung nicht nur eine ungekannte Agilität, sondern stieß auch traditionelle Vorstellungen von Kadrierung um: In seinen Kompositionen, zumal für Godard, scheinen die Bildränder zu vibrieren, sich immer weiter zu öffnen, um flexibel auf Schauspieler und Dekors zu reagieren. Seine ersten Filme mit François Truffaut (Schießen Sie auf den Pianisten, Jules und Jim) und Jacques Demy (Lola) führen vor Augen, dass Cinemascope und Schwarzweiß noch immer das schönste Filmformat sind. Hier zeigte er seine Empfindsamkeit für das Timbre zutiefst romantischer Situationen. Später besann sich auch Philippe Garrel auf Coutards nuancenreiche Schwarzweißfotografie. Mit den expressiven Farbvaleurs in Godards Die Verachtung und Pierrot le fou erweiterte er seine Palette: Er machte die Primärfarben in der filmischen Moderne heimisch. Nach Sauvage Innocence von Garrel, einer letzten Etüde in Schwarzweiß, nahm er 2001 Abschied vom Kino. Nun ist Raoul Coutard 92-jährig gestorben. (Gerhard Midding, 10.11.2016)