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Demonstration für verhaftete prokurdische Politiker in Ankara. Auch Vertreter von EU-Botschaften waren dabei.

Foto: Reuters / Umit Bektas

Ankara/Sofia – Der Gesandte Georg Oberreiter fand sich Mittwochmorgen bereits auf der Titelseite einer türkischen Zeitung an den Pranger gestellt. Und der Rest des Tages wurde für das Verhältnis zwischen der Türkei und der EU, das die Züge einer Scheidungskrise annimmt, dann rasch nur noch schlimmer. "Gebt eure endgültige Entscheidung ab", forderte Staatschef Tayyip Erdoğan die Europäer in einer Rede in Istanbul auf, in der er die EU-Staaten wegen der Kritik an den Repressionen in der Türkei erneut scharf angriff.

"Die Nazis seid ihr"

Es konnte als Aufforderung des Präsidenten verstanden werden, den Beitrittsprozess zu beenden. "Die Nazis seid ihr", sagte Erdoğan unter anderem. Wenige Stunden später stellte EU-Erweiterungskommissar Johannes Hahn in Brüssel den jährlichen Bericht zum Beitrittsprozess mit der Türkei vor. Es war der negativste Befund seit Beginn der Verhandlungen vor nun elf Jahren.

Doch nicht nur die türkische Regierung nahm sich am Mittwoch die Europäer vor. Auch im Lager der nationalistischen Opposition war die Verärgerung groß. "Wo wart ihr, als wir die Leichen unserer Märtyrer bestatteten?", fragte die Tageszeitung Sözcü vorwurfsvoll und zeigte ihren Lesern ein Foto mit EU-Botschaftsvertretern in Ankara, die am Dienstag an einer Sitzung der Abgeordneten der prokurdischen Minderheitenpartei HDP im Parlament teilgenommen hatten. Georg Oberreiter, der Gesandte der österreichischen Botschaft, war in der Bildmitte.

"Ziviler Putsch"

In Wahrheit kamen die Botschafter sehr wohl auch zur Sondersitzung des Parlaments am 16. Juli, dem Morgen nach dem vereitelten Putsch. Damals schüttelte Regierungschef Binali Yildirim auch dem Vorsitzenden der HDP als Zeichen der Anerkennung und des innenpolitischen Friedens die Hand. Selahattin Demirtaş ist mittlerweile inhaftiert, ebenso wie die Ko-Vorsitzende seiner Partei und weitere acht Abgeordnete. Seit dem 20. Juli gilt im Land der Ausnahmezustand.

Zehn Dekrete hat Staatschef Erdoğan seither erlassen mit umfassenden Eingriffen in Justiz, Militär, Behörden, Universitäten und Wirtschaftsunternehmen. "Ernsthafte Rückschritte" stellt der sogenannte Fortschrittsbericht fest, den die EU-Kommission am Mittwoch präsentierte. Sie bezieht sich dabei sowohl auf die Einschränkungen der Meinungsfreiheit seit dem vergangenen Jahr als auch auf die Unabhängigkeit der Justiz. Die Situation habe sich seit dem Putschversuch noch verschlimmert. Das türkische Parlament habe kaum Kontrolle über die Exekutive, heißt es im Bericht der EU. Beim Vorgehen gegen mutmaßliche Mitglieder der Gülen-Bewegung solle sich die Regierung an die Empfehlungen des Menschenrechtskommissars des Europarats halten und klare Kriterien definieren. 76.000 öffentliche Bedienstete wurden bis Oktober suspendiert, 63.000 entlassen. 70.000 Betroffene hätten bei der Regierung Anträge auf Überprüfung der Sanktionen gestellt. In der Frage der Visaliberalisierung bleibt Brüssel strikt: Die Türkei müsse alle Auflagen erfüllen.

Die EU-Kommission empfiehlt in ihrem Bericht außerdem die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen mit Albanien unter der Bedingung, dass das Land die Justizreform weiter in Angriff nimmt. Serbien stellt sie unterdessen die Eröffnung weiterer Beitrittskapitel in Aussicht. (Markus Bernath, 9.11.2016)