Der Brüsseler Weihnachtsmarkt.

Foto: angela oyrer

Das Museum für moderne urbane Kunst wurde heuer im Brüsseler Stadtteil Molenbeek eröffnet.

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Blick vom Museum.

Foto: angela oyrer

Zwei Jahre habe ich in den Niederlanden gewohnt, bevor ich 1996 berufsbedingt mit meinem niederländischen Mann nach Belgien gezogen bin, wo wir erst im flämischen Teil des Landes, in Antwerpen, gewohnt haben und später in eine Randgemeinde von Brüssel gezogen sind. Ich war damals erstaunt und bin es noch heute, wie sehr sich die beiden geografisch nebeneinander liegenden Staaten, in denen teilweise sogar die gleiche Sprache gesprochen wird, voneinander unterscheiden.

Chaotisch-charmant

Während ich die Niederlande im Allgemeinen als sehr gut funktionierenden Staat, verlässlich und pragmatisch kennengelernt habe, ist Belgien tendenziell eher chaotisch. Selbst nach 20 Jahren fällt es mir oft schwer, die den Belgiern eigene Gelassenheit aufzubringen, wenn Handwerker nicht erscheinen, Züge unangekündigt gestrichen werden oder einer der zahlreichen Streiks den sowieso dichten Verkehr beinahe zum Erliegen bringt.

Das Laissez-faire hat natürlich auch einen gewissen Charme. Brüssel hat sich auch in der Zeit, in der ich es kenne, und trotz der Probleme, insbesondere in der letzten Zeit, positiv entwickelt. Manches bleibt trotzdem schwierig: Zum einen fehlt das Geld, obwohl Belgien eine der höchsten Steuerbelastungen in der EU hat – höher als zum Beispiel Österreich –, zum anderen verursacht das Verhältnis Flandern/Wallonien mit Brüssel als offiziell zweisprachigem Gebiet, das wieder in 19 recht autonome Teilgemeinden mit eigenen Bürgermeistern eingeteilt ist, Kompetenzstreitigkeiten. Das führt oft dazu, dass Projekte nicht über das Planungsstadium hinauskommen.

Kritik aus Österreich

Das belgische Bildungswesen unterscheidet sich wesentlich von dem in Österreich. Kinder werden relativ früh von Tagesmüttern betreut oder besuchen Kinderkrippen. Es ist eher unüblich, dass Mütter oder Väter länger als einige wenige Monate zu Hause bleiben. Mir war das damals nach der Geburt meiner Tochter noch sehr fremd, und ich war froh, die Möglichkeit zu haben, ein Jahr unbezahlten Urlaub nehmen zu können. Bei den beiden anderen Kindern habe ich dann allerdings schon nach einigen Monaten wieder zu arbeiten begonnen. Das hat bei Besuchen in Österreich zu teilweise heftiger Kritik geführt. Ich war allerdings damals – und bin noch immer – davon überzeugt, dass es den Kindern nicht geschadet hat. Ein Aufenthalt im Ausland bringt auch mit sich, dass man manche Einstellungen ändert und hinterfragt.

Die Schule beginnt in Belgien mit dem Ganztagskindergarten. Anschließend folgen Grundschule (bis zum 12. Lebensjahr) und Sekundarstufe, die vergleichbar mit Gymnasium, Realschule oder berufsbildenden Schulen sind (bis 18 Jahre) und beide als Ganztagsschulen geführt werden. Ob die Ganztagsschule und spätere Trennung ab 12 Jahren zu einer größeren Chancengleichheit führt, was in Österreich diskutiert wird, ist nach den Erfahrungen in Belgien schwer zu beurteilen. Auch hier ist es leider so, dass Kinder mit Migrationshintergrund laut einer im Vorjahr veröffentlichten Untersuchung bis zu vier Jahre Rückstand auf andere haben und eher selten höhere Bildungseinrichtungen besuchen. Woran das liegt, ist schwer zu sagen: Einer der Gründe ist vermutlich die Konzentration von sozial eher benachteiligten Kindern in bestimmten Schulen.

Jugendliche auf Identitätssuche

Brüssel ist sehr multikulturell, und meine beiden älteren Kinder haben eine Schule besucht beziehungsweise besuchen sie noch, in der Kinder aus EU-Mitgliedstaaten in ihrer Muttersprache und in den Nebenfächern gemeinsam in der ersten Fremdsprache unterrichtet werden. Trotzdem, oder vielleicht gerade deshalb, sind meine Kinder und auch die von Bekannten und Freunden sehr stark auf der Suche nach ihrer Identität. Sie fühlen sich nicht als Belgier, aber eigentlich in unserem Fall auch nicht wirklich als Österreicher oder Niederländer, auch nicht als Europäer – das ist doch eher zu abstrakt. Ich kann daher in gewisser Weise auch die Problematik rund um Integration gut nachvollziehen: In einem Land zu leben bedeutet nicht automatisch, sich dem Land zugehörig zu fühlen – und sich zugehörig zu fühlen, ist gerade für Jugendliche wichtig.

Brüssel hat auch einen relativ hohen Anteil an muslimischen Bürgern, vor allem aus Marokko, und ist wegen des Viertels Molenbeek und in Zusammenhang mit Jihadismus in letzter Zeit oft in den Schlagzeilen gestanden. Persönlich kann ich sagen, dass ich in Brüssel noch nie Angst hatte und in den 20 Jahren auch noch keine negative Erfahrung gemacht habe.

Molenbeek ist ein Stadtteil, den man besuchen sollte. Ich weiß aber natürlich – und nicht erst seit den Anschlägen dieses Jahres –, dass eine gewisse Problematik besteht. Es gab und gibt schon Projekte des belgischen Staates, Molenbeek aufzuwerten: Grundstücke wurden bereitgestellt, um Einwohnern zu ermöglichen, gemeinsam einen Garten zu betreiben. Es wurde versucht, kleinere Firmen anzusiedeln, und kürzlich wurde ein neues Museum eröffnet. Allerdings bleibt es schwierig, und manches wurde sicher zu lange ignoriert: etwa das Problem mit Jihadisten, die in manchen relativ bekannten Schulen Jugendliche vor den Schultoren anwerben oder zweifelhafte Prediger in Moscheen. Trotz allem bleibt Belgien ein liebenswertes Land und ist sicher einen Besuch wert. (Angela Oyrer, 25.11.2016)