Ich widerrufe. Denn der "Sie & Er"-Lauf ist doch leiwand. Und auch wenn ich das Gegenteil nie öffentlich behauptet habe, habe ich diese Meinung (nämlich dass der Paarlauf auf der Hauptallee eben nicht leiwand ist) bisher doch vertreten. Zumindest im privaten Kreis: Die Idee, dass man zwar dezidiert als Paar bei einem Lauf antritt, aber dann nicht gemeinsam läuft, schien mir nie schlüssig oder sympathisch: Ich bin Gesellschaftsläufer. Wenn ich mit Freunden oder Freundinnen laufe, dann geht es um das soziale Element. Auf Deutsch: ums gemeinsame Laufen. Aber ich halte es mit Konrad Adenauer. Der sagte ja, "was interessiert mich mein Geschwätz von gestern", wenn er erkannte, dass er sich geirrt hatte. Und beim "Er & Sie"-Lauf habe ich mich geirrt.

Foto: Thomas Rottenberg

Der Reihe nach: Der "Sie & Er"-Lauf zählt zu den Traditionsrennen in Wien. Seit mehr als 30 Jahren laufen hier – zum Saisonschluss – (gemischtgeschlechtliche) Paare durch den Prater. Zweimal vier Kilometer – als Staffel. Wer zuerst und wer als Zweiter läuft, ist egal. Gewertet wird die Gesamtzeit des Teams.

Der Lauf ist heute ein echter Volkslauf. Mehr als 1.800 Teams hatten sich heuer angemeldet – und gewertet wird in recht unterschiedlichen Kategorien: Von der Elite reicht die Bandbreite über Ehepaare und "Paare ohne Trauschein" bis zu Freunde und Kollegen "irgendwie Verwandt". Und damit es keine Missverständnisse gibt, kann man auch als "einfach nur befreundet" antreten.

Verstehen muss ich diese Kategorien ja nicht – aber kombiniert mit den diversen Altersgruppen, hat das auch einen Vorteil: Man findet sich nach dem Lauf relativ leicht mit einem nicht dreistelligen Rang im Klassement.

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Das war nicht immer so: Als der Lauf noch "Er & Sie"-Lauf hieß und vom LCC veranstalte wurde, war er eine ziemlich astreine Leistungssport- und Eliteveranstaltung: 120 bis 140 Teams traten an – und gaben sich unter Ausschluss der Öffentlichkeit die Kante. Bis 2001 Ilse Dippmann auf den Plan trat: Dippmann ist die Erfinderin und Veranstalterin des "Österreichischen Frauenlaufes" und damit eine der ganz großen Playerinnen auf der Ebene der Volksläufe. Ein Paarlauf passte da perfekt als Ergänzung in ihr Portfolio – und gemeinsam mit Andreas Schnabl ließ sie den "Er & Sie"-Lauf nicht nur zum "Sie & Er"-Lauf mutieren, sondern machte daraus auch eine Veranstaltung, die mit 3.600 Teilnehmerinnen und Teilnehmern mittlerweile am Limit ist. "Mehr verträgt diese Strecke mit so einem Eventlayout nicht", sagt Dippmann.

Foto: Thomas Rottenberg

Dippmann hatte mich eingeladen. Doch weil meine Herzdame keine Zeit hatte, startete ich mit einer meiner ältesten Laufbuddys: Mit Helena bin ich schon in New York und Berlin den Marathon gelaufen. Zuletzt starteten wir vor ein paar Wochen gemeinsam am Wolfgangsee. Kennengelernt haben wir uns auch beim Laufen. 2012 – beim Training für meinen ersten Marathon, den von Palma. Helena lief dort die Halbdistanz.

Ob sie Lust hätte, vier Kilometer gemeinsam, aber ohne mich die vier Kilometer zu laufen? "Klar". Auch wenn ich langsam bin? "Ich renn halt als Zweite und voll – und hole auf, was du liegen lässt." Gut so.

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Das Wetter war am Sonntag enden wollend super. Höflich gesagt, in den letzten paar Wochen hatte ich eben eindeutig Glück gehabt: Bodensee, Wolfgangsee, Jesolo – schöner und besser geht echt nicht.

Aber auch wenn es diesen Sonntag richtig frisch war, zwischendurch immer wieder regnete und wir uns vor dem Start natürlich fragten, wieso wir nicht einfach einen Couch- und Brunchtag eingelegt hatten, war das dann – im Startblock – kein Thema mehr.

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Es gibt ein paar Dinge, die ich nie kapieren werde. Menschen, die im Flugzeug aufspringen und sich in den Gang stellen, sobald die Maschine den Boden berührt hat, etwa. Oder aber Leute, die sich bei einem Lauf, bei dem es erstens um den goldenen Klobesen geht und bei denen man zweitens ohnehin nach Nettozeiten bewertet wird, an Stellen aufstellen, wo sie nur eines tun: jenen, die schneller sind, im Weg stehen.

Verstehen Sie mich nicht falsch: Jeder soll rennen, wie er oder sie es will, aber wenn ich weiß, dass ich den Kilometer in – Hausnummer – 5'30" schaffe, ist es grotesk, sich in einem 1.800-Nasen-Starterfeld in die vierte Reihe zu drängeln.

Selbstüberschätzung ist zwar auch eine Form der Wertschätzung – aber nicht sehr kollegial.

Foto: Thomas Rottenberg

Freilich: Der echten Elite ist das Wurscht. Die startet – abgesichert – aus der vordersten Reihe. Und das ist gut so: Das Tempo, mit dem echte Spitzenläuferinnen und -läufer da über die Strecke fliegen, hat mit dem, was Sie und ich auf den Boden bringen, nix zu tun.

Während ich noch lang nicht bei der ersten Kilometermarke war, kamen mir die Führenden schon wieder entgegen. Unter ihnen –als schnellste Frau – meine Trainerin Sandrina Illes.

Ganz abgesehen von der ernüchternden Diskrepanz zwischen dem, was Spitzenläuferinnen und -läufer schaffen, und meinem Leistungslevel, sind solche Augenblicke auch jedes Mal wieder faszinierende Stilstudien.

Foto: Thomas Rottenberg

Ich wollte es ja eigentlich gemütlich angehen. Aber irgendwie legte ich dann den falschen Gang ein – und merkte es viel zu spät. Der klassische Anfängerfehler. Und weil ich diese Saison keinen einzigen Bewerb auf Tempo oder Zeit, sondern immer nur gemeinsam mit anderen nice and easy gelaufen war, tappte ich in die Falle: Ich hatte mich an die Falschen angehängt – und nicht auf meine Pace geachtet. Bei der ersten Wende sah ich auf die Uhr: viel zu schnell! Für diesen einen Kilometer würde ich jetzt drei Kilometer hart bezahlen. Selber schuld.

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Mit das Feine an Events wie dem "Sie & Er"-Lauf: Man trifft hier Freunde, Bekannte und Leute, die man schon ewig nicht mehr gesehen hat. Wäre ich nicht auf Anschlag unterwegs gewesen, hätte ich mich nicht nur gefreut, Leute wie Thomas Madreiter hier zu treffen, sondern auch mit dem Chef der Wiener Stadtplanung ein bisserl geplaudert: Madreiter gehört zu jenen Stadtbenutzern, die Städte nicht nur aus sportlicher Motivation belaufen, sondern auch, weil man eine Stadt aus der Läuferperspektive ganz anders erlebt, sieht und auch versteht als auf dem Rad, in den Öffis oder im Auto: Die belaufbare Stadt hat sehr viel mit der begehbaren Stadt zu tun – und damit mit der Stadt der Menschen.

Foto: Thomas Rottenberg

Ich war viel weiter vorn, als ich es mir je erträumt oder erwartet hätte. Woran ich das merkte? Nun: Als ich in etwa dort war, wo mir zuvor Sandrina entgegengekommen war, kam mir das Hauptfeld entgegen. Und jetzt verstand ich, was Ilse Dippmann gemeint hatte, als sie von der Grenze der Leistungsfähigkeit der Hauptallee gesprochen hatte: Die Markierungen in der Fahrbahnmitte, die eigentlich die Richtungs"fahr"bahnen kennzeichnen sollten, waren plötzlich nur mehr Zierde: Der dichte Pulk breitete sich mitunter auf zwei Drittel der Breite der Hauptallee aus. Ich war verdammt froh, da nicht drinzustecken – vor allem an den Kehren.

Foto: Thomas Rottenberg

Ich kämpfte. Ganz so zurückfallen lassen, wie es meiner Form und Leistungsklasse eigentlich entspricht, wollte ich mich nicht. Rund um mich legten die Läuferinnen und Läufer ein Tempo vor, dass mir Hören und Sehen verging. Aber ich ging langsamer ein als erwartet.

Trotzdem: Zur Halbzeit, als ich an der Bühne und dem Zieleinlauf vorbeikam, hätte ich auch nichts dagegen gehabt, schon jetzt an Helena zu übergeben. Aber: noch zwei Kilometer.

Foto: Thomas Rottenberg

Ganz so schlimm war es dann aber eh nicht: Die zweite Hälfte meines Vierers war eine Spur konstanter als die erste. Auch, weil dann ein paar Leute unterwegs waren, die in etwa mein Tempo liefen und mit denen ich mich auf ein Packel haute. Sowas hilft. Das Tempo sackte zwar ab, aber dafür, dass ich die ganze Saison über keine Sekunde für einen flotteren Lauf trainiert hatte, war es eigentlich eh okay – wenn man davon absieht, dass ich jetzt sterben wollte. Aber: Hinter der Ziellinie wartete Helena. Und ich lasse Freunde nur ungern warten.

Foto: Thomas Rottenberg

Ein Problem bei Jedermannlaufstaffeln ist in der Regel die Hektik und das Durcheinander, das entsteht, wenn 2.000 Menschen darauf warten, dass 2.000 andere ihnen das Staffelholz (das es in Wirklichkeit nicht gibt) in die Hand drücken: Sobald der Vorderste einen halben Schritt nach vorn macht, macht der hinter ihm Stehende eineinhalb Schritte. Und so weiter. Dann wird es sehr schnell sehr eng. Erst recht, wenn es schnell gehen soll.

Beim "Sie & Er"-Lauf wird es bei der Übergabe zwar auch dicht – aber zumindest die größte Hektik nehmen Schnabl & Dippmann hier raus: Die Zeitnehmung stoppt, sobald der/die Erste des Teams in die Wechselzone kommt, und beginnt erst wieder zu laufen, wenn der/die Zweite über die Startlinie kommt. Theoretisch könnte man da also auch noch auf ein Bier gehen …

Foto: Thomas Rottenberg

Helena zog ab. Ich verschnaufte kurz, schnallte mir den Rucksack mit unseren Pullis und Regenjacken um und trabte meiner Partnerin nach. Freilich ohne sie einzuholen: Dafür ist Helena viel zu schnell. Stattdessen wartete ich ein paar hundert Meter vor der Wende – und genoss es, den anderen Läufern zuzusehen.

Foto: Thomas Rottenberg

Ich wartete nicht allein. Den Dritten im Bunde habe ich Ihnen nämlich bisher unterschlagen: Wolfgang, Helenas Freund. Der hatte schon mich beim Vorbeilaufen angefeuert und aufgemuntert und sogar ein Stück begleitet. Und als Helena an unserer Warteposition vorbeikam, liefen wir eben zu dritt weiter: "Ich bin vermutlich die bestbetreute Läuferin auf der Strecke", lachte Helena.

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Stimmt. Denn zu dritt waren nur wenige auf der zweiten Etappe unterwegs: Dass manche Paare den zweiten Teil des Laufes gemeinsam absolvieren, ist weder unüblich noch verboten. Und solange man die Strecke für Schnellere nicht blockiert, ja auch kein Problem. Sicherheitshalber hatte ich vorher aber die Veranstalter gefragt. "Kein Thema – du musst nur drauf achten, dass der erste Läufer beim zweiten Mal Über-die-Startlinie-Kommen den Chip nicht mehr dran hat. Sonst sagt die Elektronik DSQ." Und auch wenn es um nix geht: DSQ, also "disqualified", muss nicht sein.

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Unterwegs trafen wir dann noch andere Bekannte. Hemma etwa. Sie war Teil eines der von "Fremde werden Freunde" auf die Strecke geschickten "Grenzenlos"-Laufpaare: "Fremde werden Freunde" ist eine Initiative, in der sich – grob vereinfacht gesagt – Österreicher um Flüchtlinge kümmern. Bei ganz alltäglichen Dingen. Laufen ist nur eines davon. Weil Integration nicht von oben verordnet werden kann, sondern gelebt werden muss. Sonst wird das nix – und am Schluss zahlen dann alle drauf. Über die "Fremde werden Freunde"-Laufgruppe werde ich hier in den kommenden Wochen noch berichten.

Foto: Thomas Rottenberg

Zwei Kilometer später war der Lauf dann aber auch für Helena und mich vorbei. Wolfgang hatte uns dort, wo es niemanden stören konnte, begleitet, war aber bei den Wenden abgebogen – und lief natürlich auch nicht mit uns durchs Ziel: Wir trafen ihn ein paar Meter hinter der Wechselzone wieder – und hängten noch ein paar entspannte Kilometer hinten dran. Zum einen, weil Auslaufen nicht die blödeste aller Übungen ist, die man nach einer doch intensiver angelegten Einheit noch machen kann.

Foto: Thomas Rottenberg

Zum anderen aber auch, weil wir davon überzeugt sind, dass nicht nur die Elite Applaus und Respekt verdient, sondern auch und vor allem jene Läuferinnen und Läufer, die ganz hinten laufen – und die sonst keiner sieht.

Thomas etwa. Er war der letzte Mann auf der Strecke. Er lief mit einer Pace, bei der er für einen Kilometer nicht wesentlich weniger lang brauchte, als der schnellste Läufer des Tages für seinen kompletten Race-Part gebraucht hatte. Aber er lief. Für sich. Für seine Partnerin. Für die Freude am Laufen, an der Bewegung – und am Leben.

Und nur das zählt.

Mehr Geschichten vom Laufen gibt es auf www.derrottenberg.com

Hinweis im Sinne der redaktionellen Leitlinien: Thomas Rottenbergs Teilnahme erfolgte auf Einladung der Veranstalter. Das normalerweise fällige Startgeld wurde gespendet.

Foto: Thomas Rottenberg