Nach der Verhaftung von "Cumhuriyet"-Chefredakteur Murat Sabuncu am Montag kam es zu Protesten. Nun wurde über ihn und acht seiner Mitarbeiter die Untersuchungshaft verhängt.

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Die Vorsitzenden der HDP, Selahattin Demirtaş (li.) und Figen Yüksekdağ, während des Parlamentswahlkampfs im April 2015. In der Nacht auf Freitag wurden beide verhaftet.

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Wasserwerfer gegen Demonstranten in Istanbul

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Ankara/Athen – "Drückt meinen Kopf nicht herunter!", protestierte İdris Baluken. "Ich vertrete Hunderttausende von Stimmen. Du kannst mich nicht so wegbringen und meinen Kopf herunterdrücken", erklärte er einem der Beamten von der Antiterroreinheit. Aber der Lungenarzt und prominente Kurdenpolitiker wird in der Nacht auf Freitag ebenso in einen Polizeiwagen bugsiert wie seine beiden Parteivorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ sowie ein Dutzend weitere Abgeordneter der HDP. Eine auch für türkische Verhältnisse besonders radikale Woche der Repressionen geht so mit der Verhaftung von Oppositionspolitikern aus dem Parlament zu Ende.

Am Samstag wurden schließlich neun weitere Funktionäre der HDP festgenommen worden. Es handle sich unter anderem um Provinz- und Bezirksvorsitzende der Partei in der südöstlichen Region Adana, sagte ein HDP-Funktionär der Nachrichtenagentur Reuters.

Am Sonntag hieß es seitens der amtlichen Nachrichtenagentur Anadolu, dass bei Razzien PKK im Südosten der Türkei 15 Verdächtige festgenommen worden sind. Der Einsatz habe sich auf die Provinz Adana konzentriert, meldete die Agentur.

Die Immunität der Abgeordneten von der prokurdischen Minderheitenpartei HDP, der drittgrößten Fraktion im Parlament in Ankara, ist schon seit dem Frühjahr weg. Damals stimmte auch ein Teil der Sozialdemokraten für den Vorschlag der Regierung, den Schutz aller Abgeordneten vor Strafverfolgung aufzuheben. Ein kapitaler Fehler, wie die CHP jetzt feststellen muss, wo die Türkei im Ausnahmezustand regiert wird. Die Verhaftung der Parlamentarier führe das Land in eine gefährliche Richtung, sagte am Freitag Kemal Kiliçdaroğlu, der Vorsitzende der größten Oppositionspartei.

Untersuchungshaft für "Cumhuriyet"-Chefredakteur

Am Montag ließ die Regierung bereits den Chefredakteur und ein Dutzend Mitarbeiter von "Cumhuriyet", der wichtigsten verbliebenen Oppositionszeitung, verhaften. Fünf Tage nach seiner Festnahme hat nun ein Gericht die Untersuchungshaft gegen Murat Sabuncu und acht weitere "Cumhuriyet"-Mitarbeiter erlassen, meldete die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu. Der Vorwurf lautet Unterstützung des Terrors.

Nochmals 12.000 Beamte – darunter viele Hochschullehrer und Polizisten – sind im Lauf der Woche suspendiert worden. Für die ebenfalls inhaftierten Bürgermeister von Diayarbakır, der größten und wichtigsten Stadt der Kurden in der Türkei, setzte der Innenminister einen Verwalter ein.

Drohungen Richtung EU

Dazwischen nannte Staatschef Tayyip Erdoğan Deutschland einen den Terrorismus unterstützenden Staat, und sein Außenminister drohte mit der Aufkündigung des Flüchtlingsabkommens mit der EU noch in den nächsten Tagen. Dann folgte auch noch der Schlag gegen die Parlamentarier von der Partei der Demokratischen Völker (HDP).

Von den zunächst 13 festgenommenen Politikern kommt am Nachmittag Sırrı Süreyya Önder, ein prominenter Sozialist aus Istanbul, unter Auflagen wieder auf freien Fuß. Dafür wird auch Sebahat Tuncel verhaftet, eine andere führende Kurdenpolitikerin und Frauenrechtlerin. Allen wirft die türkische Justiz Unterstützung der kurdischen Untergrundarmee PKK vor. Diese wird in der Türkei wie in der EU als Terrorgruppe eingestuft.

Noch am Freitagmorgen kam es zu einem Bombenanschlag auf den Hauptsitz der Polizei in Diyarbakır. Die Regierung machte die PKK verantwortlich. Die Wucht der Explosion lässt einen enormen braunfarbenen Pilz über der Stadt aufsteigen. Mindestens neun Menschen sterben, an die 100 werden verletzt. In der Millionenstadt Diyarbakır wie in Ankara und Istanbul gehen HDP-Anhänger auf die Straßen und werden von der Polizei mit Gewalt auseinandergetrieben. Inzwischen hat jedoch der IS den Anschlag für sich reklamiert, wie die IS-nahe Nachrichtenagentur Amaq vermeldet.

Fünf Millionen Stimmen hatte die HDP bei der zweiten Parlamentswahl im November vergangenen Jahres erhalten; bei der ersten, regulären, im Juni hatte sie Erdoğans konservativ-islamischer Partei erstmals die absolute Mehrheit genommen. Selahattin Demirtaş hatte den autoritär herrschenden Erdoğan immer wieder provoziert: "Du wirst nicht Präsident werden!" Die HDP, sollte das heißen, werde im Parlament stark genug sein, um eine Verfassungsänderung und die Einführung eines Präsidialsystems zu verhindern. Doch spätestens mit dem gescheiterten Militärputsch vom Juli und der Verhängung des Ausnahmezustands haben sich die Gewichte in der Türkei gänzlich zugunsten Erdoğans verschoben.

Straßenunruhen erwartbar

Mit dem Schlag gegen die prokurdischen Parlamentarier scheint nun auch eine Zeit der Straßenunruhen auf das Land zuzukommen. "Wir fürchten weder das Gefängnis noch den Tod. Wir haben nichts zu verstecken oder zu verlieren", soll Figen Yüksekdağ, die Ko-Vorsitzende der HDP und eine langjährige linke Aktivistin, dem Staatsanwalt am Freitag gesagt haben. Ein Teil der kurdischen Jugend in der Türkei dürfte sich in diesen Sätzen erkennen.

Für die EU war die Verhaftung der Oppositionspolitiker auch eine Zäsur. In Ankara berieten die Botschafter der Union über die innere Lage des Beitrittskandidaten. Während Staatschef Erdoğan in einer Rede in Istanbul großes Wirtschaftswachstum prophezeite, sank die Lira auf das Rekordniveau von 3,15 für einen Dollar – so tief wie lange nicht. (Markus Bernath, 4.11.2016)