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Nir Baram: "Der Kapitalismus ist auf monströse Weise genial. Er versteht es, die Masken zu wechseln und den Eindruck zu erwecken, als würde er Kritik ernst nehmen. Die Wirtschaftskrise von 2008 versetzte die Welt in einen Schock. Sie zerstörte das Leben von Millionen von Menschen. In Israel, den USA und Großbritannien begann ein rapider Zusammenbruch der Mittelklasse. Schon nach wenigen Jahren aber erholte sich der Kapitalismus wieder."

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STANDARD: In Ihrem Roman "Weltschatten" zeigen Sie die Welt als "komplexen, komplizierten, verästelten Ort". Sie schildern die Strippenzieher hinter der Weltpolitik und Weltwirtschaft, die Netzwerke und Verzahnungen. Ist Ihr Roman ein Sittenbild unserer Zeit?

Nir Baram: Es ist ein Roman über die letzten vierzig Jahre Kapitalismus. Ich wollte aus verschiedenen Blickwinkeln untersuchen, wie der kapitalistische Geist das Bewusstsein beeinflusst. Dabei konzentrierte ich mich vor allem auf meine Generation. Die Angehörigen meiner Generation setzen ihre Kräfte ein für etwas, an dessen Ziel sie nicht glauben. Sie arbeiten für Unternehmen, Institutionen und Einrichtungen, deren Aktivitäten ihnen widerstreben. Mich interessierte, wie sie mit diesem Widerspruch zwischen ihren Idealen, politischen Überzeugungen und ihrem beruflichen Engagement umgehen.

STANDARD: Korrumpiert der Kapitalismus den Menschen?

Baram: Das Besondere am Kapitalismus ist, dass er nur das Talent eines Menschen will. Während der Kommunismus immer das Talent und die Loyalität verlangt, kann man im Kapitalismus Marxist sein und abends in den sozialen Netzwerken marxistische Pamphlete posten, wenn man morgens pünktlich auf der Matte steht. Der Kapitalismus kümmert sich nicht darum, woran man glaubt. Er gibt alle Freiheiten, zu tun, was immer man will, solange man ihm dient.

STANDARD: Die Hauptfigur Ihres Romans, Gavriel Manzur, wird Mitte der 1980er-Jahre als junger Israeli in die Finanzwelt von New York eingeführt ...

Baram: Gavriel stammt aus einer Familie der Mittelklasse. Er will sich einen Platz in der wirtschaftlichen und kulturellen Elite Israels erobern. Im Unterschied zu seinen Freunden wird er nicht von großartigen Visionen Israels angetrieben. Er inszeniert sich auch nicht als jemand, der ein nobles Ziel verfolgt. Ihm geht es um sein eigenes Fortkommen. So gelangt er in diese Gruppe, die am israelisch-palästinensischen Friedensprozess beteiligt ist und die Globalisierung nach Israel bringt. Er ist einer der Ersten, die Gewinn aus dem Friedensprozess und den wirtschaftlichen Kooperationen mit den USA schlagen.

STANDARD: Welche Bedeutung hat diese wirtschaftliche Verbindung zu den USA für den Friedensprozess?

Baram: Unter der Regierung von Ronald Reagan zu Beginn der 1980er-Jahre bildeten die USA und Israel eine enge Allianz. Die USA stellten Israel Geld für den wirtschaftlichen Wandel zur Verfügung, und Israel begann, das amerikanische Wirtschaftssystem zu imitieren. Damit entstand eine Situation, in der die USA keinen Einfluss auf den Friedensprozess nehmen konnten. Als Geldgeber befanden sie sich auf der Seite Israels. Sie hatten keine neutrale Position mehr. Wenn Israel wirklich Frieden schaffen will, muss es die amerikanische Beteiligung loswerden.

STANDARD: Sie vermengen in Ihrem Roman wirkliche und fiktive Ereignisse, Personen der Zeitgeschichte und erfundene Figuren. Haben Sie für diese Verbindung von Wirklichkeit und Fantasie Vorbilder in der israelischen Literatur?

Baram: Die Einflüsse auf meinen Roman kommen aus unterschiedlichen Richtungen. In der israelischen Literatur fand ich keine Vorbilder, auf die ich mich stützen konnte. Israelische Schriftsteller konzentrieren sich auf israelische Fragen. Sie verschließen sich gegenüber universalen Themen. Wir leben nun aber in einer globalisierten Welt. Geschehnisse in Lateinamerika haben Einfluss auf Israel. Die wirtschaftlichen Maßnahmen, die 1984 von Víctor Paz Estenssoro in Bolivien durchgeführt wurden, waren die gleichen, die ein Jahr darauf in Israel zum Einsatz kamen. Mit derselben Logik wurde in beiden Ländern diese wirtschaftliche "Schocktherapie" vorgenommen. Es erfolgten Entlassungen im öffentlichen Sektor, Sozialkürzungen und eine drastische Abwertung der Währung.

STANDARD: In welcher literarischen Tradition sehen Sie sich?

Baram: Anregungen für meinen Roman empfing ich aus der amerikanischen Literatur, etwa bei Thomas Pynchon, Don DeLillo und William Gaddis. Lateinamerikanische Schriftsteller wie Roberto Bolaño oder der Roman Rayuela: Himmel und Hölle von Julio Cortázar beeinflussten mich. Für meine Figur des Gavriel war sicher Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften von Bedeutung. Auch die Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, die in ihren Romanen den Geist ihrer Zeit abzubilden versuchten, waren wichtig für mich.

STANDARD: Der Name Balzac, der in seiner "Menschlichen Komödie" ein Bild der Gesellschaft entwarf, fällt mehrmals in Ihrem Roman ...

Baram: Balzac dringt ebenso wie Proust ein in das Bewusstsein und die Erinnerung. Er entwirft dieses Panoramabild, wie die Kräfte das menschliche Bewusstsein beeinflussen. Es geht nicht darum, dass Balzac die Welt beschreibt. Sachbücher tun dies ebenfalls. Balzac beschreibt die Begegnung eines Individuums mit der Welt. Er schildert all die Kräfte, die auf ein Individuum treffen, wenn es hinaus in die Welt geht. Im Kapitalismus gewinnt diese Begegnung des Individuums mit der Welt noch einmal eine neue Dimension. Die versuche ich in meinem Roman zu verstehen.

STANDARD: Mittels E-Mails entwerfen Sie eine Agentur, die weltweit agiert und Aufträge für politische Kampagnen übernimmt. Sie wird demokratisch geführt, ist von liberalem Geist getragen und verfolgt hehre Ziele. Dennoch lassen Sie sie in einem Sumpf dubioser Machenschaften untergehen. Warum?

Baram: Das gängige Klischee von Unternehmen, insbesondere in der amerikanischen Literatur, ist das einer bösen Macht. Ein solches Unternehmen interessierte mich nicht. Ich wollte mit dieser Agentur ein Unternehmen zeigen, dessen Mitarbeiter wirklich daran glauben, Verbesserungen in Teilen der Welt zu bewirken. Sie treiben ihr Spiel mit den verschiedenen Kräften der Welt und versuchen, ein Gleichgewicht zu schaffen zwischen den Zielen und Visionen. Aber dadurch verfallen sie unweigerlich der Korruption.

STANDARD: Duldet der Kapitalismus kein gutes Tun?

Baram: Gewöhnlich werden die Mitarbeiter solcher Unternehmen als allwissend beschrieben. Sie glauben, die Welt zu verstehen und zu lenken. Aber sie kennen lediglich einen winzigen Ausschnitt und sind in Wirklichkeit blind für alles. Sie sind die Letzten, die die Gründe für ihren Untergang verstehen. Im Kongo etwa wollen sie die ersten demokratischen Wahlen in der Geschichte des Landes ermöglichen. Dafür müssen sie den Eindruck erwecken, als sei der Bürgerkrieg vorüber. Er ist es nicht. Während sie also die Wahlen vorbereiten, müssen sie die Ermordungen vertuschen, die jeden Tag stattfinden. Sie versuchen, Afrika zu helfen. Aber sie verstehen den Kontinent nicht wirklich. Es ist ihnen unmöglich, ihr naives amerikanisches Ideal zu verwirklichen. So werden sie letztendlich in die schrecklichsten und wildesten Regime verstrickt.

STANDARD: Was brachte Sie auf die Idee, eine Kampagne anlässlich einer Bürgermeisterwahl in Wien zu erfinden?

Baram: Jemand in Israel erzählte mir, dass er in dieser Art von Wahlkampagne gearbeitet habe. Da ich Wien mag, gefiel es mir, der Stadt in meinem Roman einen Platz zu geben. Wien ist eine wichtige Stadt in der Geschichte Europas. Ich wollte zeigen, wie sie in den 1990er-Jahren ein Spielplatz für alle diese politischen Berater von Israel und von den USA wurde.

STANDARD: Mit den Streiks von jungen Anarchisten in London werfen Sie die Frage auf, wie man sich gegen den Kapitalismus zur Wehr setzen kann. Ist er mit Protesten allein nicht zu bezwingen?

Baram: Diese jungen Leute in London stellen die Gewaltfreiheit der Proteste gegen den Kapitalismus infrage. Alle antikapitalistischen Proteste im Westen während der letzten vier Jahrzehnte verliefen demokratisch und ohne Einsatz von Gewalt. Diese jungen Leute, die vom Randbereich der Gesellschaft kommen, fragen, warum die Gewalt von der Tagesordnung gestrichen sein soll, da die kapitalistische Ordnung ihnen gegenüber doch sehr gewaltsam auftritt. Sie sind überzeugt davon, dass die bisherigen gewaltfreien Proteste das Spiel des Kapitalismus spielten. Und sie wollen ein anderes Spiel spielen und die Protestregel nicht mehr akzeptieren, die jahrzehntelang unter der westlichen Mittelklasse galt. Ich sage nicht, dass ich ihnen zustimme. Aber das ist die Herausforderung.

STANDARD: Nach dem großen Scheitern am Ende Ihres Romans fängt alles wieder von vorne an und fügt sich in das kapitalistische Muster. Ist der Kapitalismus so stark, dass er alles überwindet, sogar seine Kritiker?

Baram: Der Kapitalismus ist auf monströse Weise genial. Er versteht es, die Masken zu wechseln und den Eindruck zu erwecken, als würde er Kritik ernst nehmen. Die Wirtschaftskrise von 2008 versetzte die Welt in einen Schock. Sie zerstörte das Leben von Millionen von Menschen. In Israel, den USA und Großbritannien begann ein rapider Zusammenbruch der Mittelklasse. Schon nach wenigen Jahren aber erholte sich der Kapitalismus wieder. Alle Proteste verschluckte er vollkommen. Er tat so, als ob er einen kleinen Wandel vollführt hätte. Tatsächlich aber hat sich seit 2008 gar nichts verändert, und die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich immer weiter. (Ruth Renée Reif, 6.11.2016)