Der Experte sieht in der Bürowelt der Zukunft auch eine Zunahme der Sehnsucht nach Komfort, Zuhause-Gefühl und zwischenmenschlichen Beziehungen.

Foto: Vitra

Raphael Gielgen spürt Bürotrends auf.

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Raphael Gielgen ist Head of Research für Vitra und jettet als Trendscout durch die Welt. Seine Mission ist das Aufspüren von Bürotrends. Das Netzwerken, sagt er, wird in Zukunft wichtiger sein als der Raum.

STANDARD: Wie sieht Ihr Schreibtisch aus?

Gielgen: Mein Schreibtisch ist sehr groß und erweckt derzeit den Eindruck, als handle es sich um die Werkbank eines Künstlers. Er ist voll mit Büchern, Computer und Maskottchen meiner Reisen. Sieht schlimm aus. Ich schäme mich.

STANDARD: Sie sind ein Verfechter moderner Arbeitsweisen. Der perfekte Schreibtisch?

Gielgen: Ich korrigiere: Ich bin ein Verfechter des Fortschritts. Es stehen nicht die modernen Arbeitsweisen im Vordergrund, sondern die Tatsache, dass wir uns weiterentwickeln müssen. Moderne Arbeitsweisen leisten dazu einen wesentlichen Beitrag. Bei Büros gibt es derzeit zwei Pole: Zum einen ist das Büro ein Ort mit einem Höchstmaß an Flexibilität und Agilität, weil wir dank neuer Technologien immer und überall arbeiten können. Zum anderen entwickelt sich das Büro zu einem Wohlfühlort, dem Zuhause für die Community. Auch wenn wir von überall arbeiten können, wollen wir letztendlich an jenen Ort zurückkommen, den wir mit unseren Kollegen teilen.

STANDARD: Das sind zwei starke Gegensätze.

Gielgen: Es braucht beides. Besonders spannend finde ich, dass die meisten glauben, es handle sich bei dieser Entwicklung um einen neuen Trend. Das Gegenteil ist der Fall. Das Büro als Ort der sozialen Treffpunkte, der Gemeinschaft ist uralt. Wir haben es nur verlernt. Irgendwann haben wir alles der Funktionalität untergeordnet und alles grau gemacht.

STANDARD: Die meisten Büros schauen heute genauso aus!

Gielgen: Die mausgrauen Büros sind leider definitiv in der Überzahl. Die Wahrheit ist: Der Mensch nimmt den Schwimmstil der Masse ungefragt an. Wir sind nicht besonders gut darin, den Status quo zu hinterfragen.

STANDARD: Sie arbeiten für Vitra und hinterfragen die Gegenwart. Wie kann man sich das vorstellen?

Gielgen: Ich lese und reise viel, bin permanent auf der Suche nach dem Quellcode für die Arbeitswelt von morgen. Ich besuche Studios, Start-ups, Unternehmen und Universitäten. Sie alle machen sich die wissensbasierte Ökonomie zunutze.

STANDARD: Die Büros von Google, Facebook und Airbnb sind weltbekannt. Werden die Rutschen, Hängematten und Seilkabinengondeln wirklich zum Arbeiten genutzt?

Gielgen: Diese Büros waren Prototypen ihrer Zeit. Diese Bewegung hat einer ganzen Industrie dabei geholfen, anders zu denken. Es wäre arrogant, wenn man den Beitrag dieser Unternehmen auf den Spielplatz reduzierte. Es geht nicht darum, dass jetzt jeder Google kopiert. Es darum, dass man Orte der Arbeit neu definiert. Das ist Google gelungen, denn das Google-Office hat weltweit und branchenübergreifend Sehnsüchte und Begehrlichkeiten geweckt.

STANDARD: Ein großer Bürotrend ist Open Space, oft sogar kombiniert mit Desk-Sharing. Die Mitarbeiter sind nur selten zufrieden.

Gielgen: Ein Open Space ist, wenn er gut gemacht ist, ein vielschichtiger und vitaler Ort mit introvertierten und extrovertierten Zonen und einer fast städtischen. Diese Kombination ist für ein Unternehmen tatsächlich ein Fortschritt.

STANDARD: Wie kommt dann dieser Gap zustande?

Gielgen: Das hat wahrscheinlich damit zu tun, dass die Hausaufgaben nicht gemacht werden. Ich denke da nur an Raumklima und Akustik. Wenn man mit solchen Defiziten Tag für Tag konfrontiert wird, dann nervt das gewaltig. Ich bin davon überzeugt: Wenn wir das technische Einmaleins besser im Griff hätten, dann würde sich die Akzeptanz von heute auf morgen mehr als verdoppeln!

STANDARD: Studien besagen, dass Krankenstand, Kopfschmerzen und zwischenmenschliche Aggression in Großraumbüros deutlich zunehmen. Hat das auch mit Raumklima und Akustik zu tun?

Gielgen: Nein. Nicht nur. Aktuell gab es auf ARD eine Themenwoche über die Zukunft der Arbeit. Ich habe mit Entsetzen festgestellt, dass die durchschnittliche Krankenstandsdauer in Deutschland 19 Tage beträgt. Noch schockierender ist, dass psychische Erkrankungen das mit Abstand stärkste und häufigste Krankheitsbild sind. Das hat nicht mit Klima und Akustik zu tun, sondern mit dem Verhältnis zu Chef und Kollege. Du kannst die großartigste Büroarchitektur haben, aber wenn die Unternehmenskultur nicht dazu passt, dann vergiss es!

STANDARD: Wie sieht die Zukunft aus?

Gielgen: Von wie vielen Jahren sprechen wir?

STANDARD: Von einem Jahrzehnt.

Gielgen: In den nächsten zehn Jahren sehe ich, dass parallel zur Digitalisierung auch die Sehnsucht nach Komfort, Zuhause-Gefühl und zwischenmenschlichen Beziehungen zunehmen wird. Community wird zu einem integralen Bestandteil der Infrastruktur. In Zukunft wird man die Büros und Office-Hubs nicht mehr als Raum verstehen, sondern als Cluster, als einen Hort des Treffens und Netzwerkens. Dieser Parameter wird zunehmen. Und ich bin davon überzeugt, dass es dafür in ein paar Jahren schon Apps und Landkarten geben wird.

STANDARD: Und langfristig?

Gielgen: Langfristig wird die Anzahl der Festangestellten deutlich abnehmen, weil die Welt von morgen andere Beschäftigungsmodelle erfordert – so wie etwa Projektarbeit oder Crowd-Working. Dazu braucht es eine komplette Neudefinition von Arbeit und eine Neuregulierung des Arbeitsmarktes. Es wird ein Dialog stattfinden müssen – zwischen Politik, lokalen Behörden und den großen Playern in der Wirtschaft. Diesen Dialog vermisse ich. (Wojciech Czaja, 24.11.2016)