Ankara/Wien – Die Geduld des türkischen Außenministers Mevlüt Çavuşoğlu mit der Europäischen Union neigt sich dem Ende zu. Das sagte er zumindest der "Neuen Zürcher Zeitung". Sollte die Visabefreiung für türkische Staatsbürger nicht bald konkrete Formen annehmen, werde Ankara sein größtes Druckmittel gegen die EU einsetzen und den Flüchtlingspakt noch vor Jahresende kündigen.

Der wiederholten Drohung vorausgegangen ist eine Aussage des Vizepräsidenten des Europäischen Parlaments, Alexander Graf Lambsdorff. In einem Interview mit der "Bild" kommentierte er die verschärften Anti-Terror-Gesetze in der Türkei und die Aussagen von Präsident Recep Tayyip Erdoğan, wonach er die Todesstrafe wiedereinführen will: "Wenn Erdoğan seinen Weg fortsetzt, dann wird visafreies Reisen in unerreichbare Ferne rücken", so Lambsdorff. Nicht einmal 2017 sei dann ein realistisches Jahr für die Umsetzung.

Gelassene Reaktion

Die EU hat auf die Drohung Çavuşoğlu gelassen reagiert. Man stehe zu den Verpflichtungen des Abkommens, erklärte ein Sprecher der EU-Kommission. Es handle sich dabei um "einen Vertrag, der auf beiderseitigem Vertrauen" basiere – und dieser werde auch von beiden Seiten eingehalten.

Erst im August hatte Außenminister Çavuşoğlu ein Platzen des Deals angekündigt, wenn die EU nicht noch bis Ende Oktober die Reisefreiheit umsetzt. Die Argumente der Union, wonach die Anti-Terror-Gesetze zu scharf seien, lässt der Minister nicht gelten. Er verweist auf die Ausnahmeregelungen in Frankreich nach den Terrorattacken. Erst diese Woche kam es in der Türkei wieder zu zahlreichen Verhaftungen regierungskritischer Journalisten, und am Donnerstag wurden erneut etwa 1.200 Polizisten suspendiert.

Milliarden für Türkei

Der Flüchtlingspakt zwischen der EU und der Türkei ist seit rund einem halben Jahr in Kraft und verpflichtet die Türkei, illegale Überfahrten zu verhindern und gleichzeitig Migranten aus Europa zurückzunehmen. Im Gegenzug sagte die Union Hilfsgelder im Ausmaß von drei Milliarden Euro in den Jahren 2016 und 2017 zu und stellte Visafreiheit in Aussicht. Von den versprochenen finanziellen Mitteln wurden laut Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker mit Mitte Oktober 2,2 Milliarden Euro gezahlt.

Die Rückführungen in die Türkei laufen indessen schleppend. Seit Inkrafttreten des Deals wurden 721 Migranten aus Griechenland in die Türkei zurückgebracht. Das liegt vor allem daran, dass die Migranten zunächst Anspruch auf ein Asylverfahren in Griechenland haben und Athen die Türkei – trotz Ankündigung – zu keinem sicheren Drittland erklärt hat. Zudem dauern die Verfahren in Griechenland länger aufgrund fehlenden Personals und zahlreicher Berufungen.

Laut Ankündigung des griechischen Migrationsministers Ioannis Mouzalas sollen ab Ende November wöchentlich 200 Migranten in die Türkei gebracht werden. Unterdessen sind die Ankünfte übers Mittelmeer wieder gestiegen. Hielt die türkische Küstenwache im Juni etwa 500 Menschen von der Überfahrt ab, waren es im September mehr als 3.000 Personen. (bbl, 3.11.2016)