Die Klägerin Gina Miller, hier bei ihrer Stellungnahme nach der Verkündung des Urteils, sieht sich in ihrem Kampf für ein souveränes Parlament bestätigt.

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Schwere Niederlage für die britische Regierung: Der Londoner High Court hat Premierministerin Theresa May und ihren Ministern am Donnerstag das Recht abgesprochen, ohne Mitsprache des Parlaments über Großbritanniens EU-Austritt zu entscheiden. Damit gerät der Brexit-Zeitplan ins Wanken; er sah bisher vor, dass London bis Ende März 2017 formell den Austritt aus dem Brüsseler Club ankündigt und spätestens zwei Jahre später ausscheidet. Die Kläger sprachen von einem "Sieg für die parlamentarische Demokratie". Die Regierung kündigte Berufung beim Supreme Court an.

Die Kammer unter Leitung des höchsten englischen Richters, Lord Chief Justice John Thomas, beruft sich in ihrer 32-seitigen Entscheidung auf jahrhundertealte Gesetze und Verfassungskonventionen, darunter die Bill of Rights von 1688 und das Vereinigungsgesetz von England und Schottland (1707). Im Kern ging es um das sogenannte "königliche Vorrecht": Dieser Bestimmung der ungeschriebenen Verfassung zufolge braucht die Exekutive bei wichtigen außenpolitischen Entscheidungen nicht die Vorabzustimmung des Parlaments.

Referendum nicht bindend

Der geplante Austritt aus der EU verändere aber nicht nur die Außenpolitik des Landes, sondern auch seine Gesetzeslage, hatten die Kläger argumentiert – zu Recht, wie das Gericht nun befand. Es betonte den beratenden Charakter des Referendums. Deshalb dürfe die Souveränität des Parlaments nicht in Mitleidenschaft gezogen werden. Ausdrücklich offen ließen die Richter, in welcher Form die Mitsprache der Abgeordneten geschehen soll. Die Kläger pochen auf ein ordentliches Gesetzgebungsverfahren mit Zustimmung beider Kammern. Einfacher für die Regierung wäre es, dem Unterhaus einen rechtlich bindenden Antrag zur Abstimmung vorzulegen.

Warum dies bisher nicht geschehen ist, bleibt für viele Experten in London ein Rätsel. Zwar befürwortete im Referendumskampf eine klare Mehrheit der Parlamentarier den EU-Verbleib – neben fast allen Oppositionsabgeordneten auch der größere Teil der Tory-Fraktion. Doch habe das Ergebnis vom 23. Juni, knapp 52 Prozent für den Brexit, die politische Lage verändert, glaubt Professor Anand Menon von der Expertengruppe "UK in a Changing Europe": "Mehr als 70 Prozent aller Wahlkreise in England und Wales stimmten für den Brexit, daran kommen deren Abgeordnete nicht vorbei."

Premierministerin May wollte ursprünglich das Parlament nicht einmal darüber diskutieren lassen, welche Ziele das Land in den Austrittsverhandlungen verfolgt. Dies musste sie nach Protesten der Opposition korrigieren. Entscheidungen wollte sie aber der Regierung vorbehalten: Bis Ende März 2017 werde sie Artikel 50 des Lissabon-Vertrags in Kraft setzen, der den Austritt binnen zweier Jahre in Gang setzt, kündigte die Regierungschefin an. Wer dazu eine Parlamentszustimmung verlange, "versucht die Demokratie zu untergraben". Diese Anschuldigung wiesen die Kläger am Donnerstag als "ungerechtfertigt und verfassungswidrig" zurück.

Ihr gehe es nicht darum, den Brexit aufzuhalten, beteuerte die Vermögensverwalterin und Klägerin Gina Miller. "Wir wollen eine Debatte in unserem souveränen Parlament, für das wir weltweit bewundert werden."

"Titanischer Erfolg"

Indes tobt in der Regierung ein Streit über das künftige Verhältnis zu Brüssel. Weil die Kontinentaleuropäer, angeführt von der deutschen Kanzlerin Angela Merkel, auf die Personenfreizügigkeit pochen, gilt der Verbleib Großbritanniens im Binnenmarkt als unwahrscheinlich. Dennoch sorgte Außenminister Boris Johnson am Mittwochabend ungewollt für Frohsinn: Der Brexit werde "ein titanischer Erfolg", sagte er bei einer Preisverleihung. Das Publikum wies ihn unter Gelächter darauf hin, dass das Schiff namens Titanic 1912 auf halbem Wege gesunken sei. (Sebastian Borger aus London, 3.11.2016)