Foto der umstrittenen Hand von Kammerers letzter Geburtshelferkröte aus dem Jahr 1922. Am rechten Finger sind außen kleine Fortsätze zu erkennen, die auf eine Brunftschwiele hindeuten.

Foto: American Museum of Natural History

Santiago/Wien – "Möge es dieser Veröffentlichung besser ergehen als ihrer großen, von Mendel geschriebenen Vorgängerin; möge sie noch vor dem Tode des Schreibers und vor dem Ablauf mehrere Jahrzehnte ihre Nutzanwendung finden in Wirtschaft und Wissenschaft!" Mit diesem Satz schloss der Wiener Biologe Paul Kammerer 1911 im Fachblatt "Verhandlungen des naturforschenden Vereins zu Brünn" einen seiner Texte über die Vererbung erworbener Eigenschaften.

Mit der "Vorgängerin" war Gregor Mendels Text "Versuche über Pflanzen-Hybriden" erschienen, der 45 Jahre zuvor im gleichen Fachmagazin in Brünn erschienen war und erst 1900, also 16 Jahre nach Mendels Tod, in seiner wahren Bedeutung erkannt wurde: als eine Art von Geburtsdokument der Genetik. Kammerers Wunsch sollte indes unerfüllt bleiben. Doch nun haben 90 Jahre nach dem mysteriösen Selbstmord des umstrittenen Forschers, der sich im Jahr 1926 unter Fälscherverdacht das Leben nahm, drei Biologen Kammerers damaligen Artikel unter die Lupe genommen und Erstaunliches entdeckt.

Die artfremden Brunftschwielen

Zur Rekapitulation: Der leidenschaftliche Darwin-Anhänger Kammerer (1880-1926) war zu Beginn des 20 Jahrhunderts so etwas wie ein Enfant terrible der Biologie und der führende Vertreter der Theorie der Vererbung erworbener Eigenschaften. Eines seiner Schlüsselexperimente war jenes mit Geburtshelferkröten. Kammerer konnte den männlichen Tieren aufgrund der Veränderung von Umweltbedingungen Brunftschwielen anzüchten, die diese Kröten normalerweise nicht besitzen und die dazu dienen, sich bei der Kopulation im Wasser am Weibchen festzuklammern.

Diese Schwielen vererbten sich laut Kammerer aber anders als von Mendel vorhergesagt, wie er 1911 in seinem "Brünner" Aufsatz berichtete: Paarte der Forscher eine veränderte männliche Kröte mit einem normalen Weibchen, tauchte das neue Merkmal bei den Jungkröten in einer anderen Verteilung auf als beim Nachwuchs von einem Elternpaar, das aus einem normalen Männchen und einem veränderten Weibchen bestand.

Eine (nicht ganz) neue epigenetische Erklärung

Der chilenische Biologe Alexander Vargas hat bereits 2009 behauptet, dass Kammerer mit seinen Versuchen mit Geburtshelferkröten einen epigenetischen Effekt der genomischen Prägung produziert habe, der vom Geschlecht der Eltern abhängig ist. Das war damals vor sieben Jahren aber auf eher sparsamer Quellenkenntnis argumentiert, weshalb er dafür von Biologien wie auch Wissenschaftshistorikern einige Kritik einstecken musste.

Nun wiederholt Vargas gemeinsam mit Quirin Krabichler (TU München) und Carlos Guerrero-Bosagna (Uni Linköping) sein Argument, aber die drei Forscher tun das erstens auf Basis dieses wiederentdeckten Texts aus dem Jahr 1911, der sehr viel detaillierter Kammerers Versuche beschreibt als jenes englische Buch, auf das sich Vargas 2009 gestützt hatte. Zweitens nahmen die Forscher auch die damalige Kritik an Vargas' Text auf, und drittens ist auch die Faktenbasis zur epigenetischen Vererbung mittlerweile um einiges breiter.

Die Schlussfolgerung bleibt allerdings die Gleiche wie 2009: Das, was Kammerer en passant bei seinen Krötenexperimenten beschrieb und nicht weiter beachtete, war der sogenannte Parent-of-Origin-Effekt, der mit der herkömmlichen Genetik nicht zu erklären ist. Die Experimente mit den Geburtshelferkröten sind für Vargas und Kollegen tatsächlich eine Form von "epigenetischer Vererbung" und mithin ein weiteres Indiz dafür, dass es doch nicht Kammerer war, der das letzte verbliebene Exemplar der Kröten mit schwarzer Tinte manipulierte.

Koinzidenz mit einer neuen Biografie

Das ergänzt sich gut mit der vom Autor dieser Zeilen – der ist in dem Fall nicht völlig unbefangen und ergo zu dieser Offenlegung verpflichtet – verfassten Biografie Paul Kammerers, die vor wenigen Wochen erschien und unabhängig von Vargas und Kollegen den Wiener Biologen ebenfalls entlastet. In "Der Fall Paul Kammerer" wird erstmals ein konkreter Tatverdächtiger genannt, der die Manipulationen in Auftrag gegeben haben könnte, um Kammerer und die Biologische Versuchsanstalt, an der er gearbeitet hatte, nachhaltig zu diskreditieren.

Ist Kammerer damit rehabilitiert? Nein, der endgültige, hieb- und stichfeste Beweis für seine Unschuld fehlt nach wie vor. Der könnte womöglich in der in Privatbesitz befindlichen Korrespondenz des Tatverdächtigen zu finden sein. Vargas und seine Kollegen haben eine komplementäre Alternative im Auge: Sie hoffen, dass es zur Wiederholung von Kammerers Krötenexperimenten mit der Mallorca-Geburtshelferkröte kommt, die molekularbiologisch schon relativ gut erforscht und zudem etwas leichter zu züchten sei. (Klaus Taschwer, 2.11.2016)