Vielleicht liegt es ja an meinen intellektuellen Kapazitäten. Aber: Ich habe wirklich nie ganz kapiert, wieso mir das Verstellen der Uhr um eine Stunde eine Stunde Schlaf bringen oder rauben soll. Ob es in einer Jahreszeit, in der sich Sonnenauf- und -untergang ohnehin täglich spürbar verschieben, irgendeinen signifikanten Unterschied macht, ob es eine Stunde früher hell wird – und dafür eine Stunde früher dunkel – oder umgekehrt, war für mich immer ein Nullsummenspiel: Aufstehen, wenn der Körper noch liegen will, ist elend. Und zwar unabhängig davon, welche Ziffern auf der Uhr stehen.

Foto: Thomas Rottenberg

Umgekehrt weiß ich aber auch: Unabhängig davon, was die Uhr sagt, kann es sich auch lohnen, den eigenen Leib zu den unchristlichsten Zeiten aus dem Bett zu hieven. Und dann zu versuchen, die Distanz zwischen dem Körper und der Matratze so rasch dermaßen zu vergrößern, dass der Kopf erst dann realisiert, dass man Traumland längst verlassen hat, wenn es sich nicht mehr auszahlt, wieder umzukehren. Zumindest bei mir funktioniert "Earlybirding" ausschließlich so. Und auch wenn die Erfahrung – also das Wissen und die Erkenntnis hernach, dass es sich wirklich ausgezahlt hat – das Aufstehen mit der Zeit eigentlich leichter mache sollte, gilt: In diesem Punkt bin ich lern- und erfahrungsresistent. Früh aufstehen ist elend. Immer. Und trotzdem hätte ich es mir nicht so rasch verziehen, wenn ich diesen Sonntag nicht um sechs Uhr morgens in Jesolo am Strand gestanden wäre.

Foto: Thomas Rottenberg

Ich war dienstlich hier. Aber weil es im Rahmen meines bürgerlichen Jobs nicht vorgesehen ist, dass ich tagsüber verschwinde, um eine Runde laufen zu gehen, muss ich das genauso halten wie (fast) jeder andere, der öfter als zwei oder dreimal pro Woche den Hintern, statt ihn hinter dem Schreibtisch plattzudrücken, aus eigener Kraft durch die Landschaft bewegen will: Man muss früher raus. Randzeiten suchen. Die Zeit ein bisserl besser einteilen.

Das ist zwar manchmal ein bisserl anstrengend und oft nicht wirklich beziehungs- oder familienfreundlich, aber es geht. Wenn man will. Und ich will: "I want – I can – I will" enthält so wie jeder blöde Satz auch eine Riesenportion Wahrheit.

Und dann gibt es ja auch noch die Belohnung. Das große Wow. Aber dazu ein bisserl später.

Foto: Thomas Rottenberg

Jesolo, genauer: der Lido von Jesolo, ist um sechs Uhr morgens menschenleer. Egal, ob da gerade Sommer- oder Winterzeit ist oder ob die Uhren gerade einen Sprung um eine Stunde gemacht haben: Um sechs Uhr in der Früh ist da schlicht und einfach niemand. Und dort, wo sich im Hochsommer Liege bündig an Liege reiht, bis der Sand unter ihnen nur noch eine Erinnerung aus Erzählungen ist, die man nie nachprüfen oder erleben konnte, ist die Urlaubswelt dann tatsächlich so wie im Katalog. Mit einem kleinen, aber doch nicht unwichtigen Unterschied: Nicht nur die Menschenmassen, sondern auch die Sonne fehlt.

Foto: Thomas Rottenberg

Ich bin kein Menschenfeind. Hoffe ich zumindest. Und ich spreche niemandem das Recht ab, auf seine Art Urlaub zu machen: Wenn es Menschen glücklich macht, sich zuerst in Charterflieger schlichten zu lassen, dann in engen Hotelzimmern eingepfercht zu sein, um tagsüber dicht an dicht bewegungslos in Liegebatterien am Strand neben ebenjenen Leuten zu vegetieren, die ihnen den Rest des Jahres daheim schon zu eng und zu dicht aufrücken, dann möge er – und sie – damit glücklich werden.

Mein Ding ist es halt nicht. War es nie – und wird es nie werden.

Foto: Thomas Rottenberg

Das dürfte ein Stück frühkindlicher Urlaubsprägung sein. Und auch wenn ich meine Eltern als Kind dafür jedes Jahr aufs Neue insgeheim verfluchte, weiß ich mittlerweile, dass sie recht hatten: Während all meine Freunde – zumindest die aus den Favoritner Kindergarten- und Volksschuljahren – die Sommer in Caorle, Bibione oder Jesolo verbrachten, war ich nie dort. Als Kind versteht man das nicht: Wenn sich komplette Gemeindebausiedlungen quasi in Komplettbesetzung von Wien nach Italien beamen lassen, wenn da sowohl die Stiegen- und Hofeinteilungen als auch die Hierarchien des Baus dann eben auch am Strand gelten – und jeder beim Zurückkommen von jedem nicht nur alles (wie immer), sondern noch mehr weiß und tratscht: Wieso spielen meine Eltern da nicht mit?

Foto: Thomas Rottenberg

Das ist nicht nur nicht nachvollziehbar, sondern auch gruppendynamisch stigmatisierend: Als wäre es nicht schon schlimm genug, das Jahr über als "de Kinda von de Lehra" ständig gefragt zu werden, ob "es daham a noch dera Schrift redets" und deswegen nicht nur irgendwie als suspekte Außerirdische zu gelten. Die Wahl des Sommerziels war symptomatisch. Und die Erzählungen und die Gruppenerlebnisse ließen die Diskrepanz zwischen dem, was man aus dem jeweiligen Elternhaus an Bildungsnähe oder eben -ferne mitbekam, schon erkennen. Im Nachhinein zumindest. Subkutan: Da waren die, die jedes Jahr an den gleichen Strand in die gleiche Pension und auf die gleichen Liegen fuhren. Und von klein auf lernten, dass Veränderung nie Gutes bringt. Dass man bewahren und abschotten muss, was man hat. Dass Neugierde unzufrieden mit dem Status quo macht. "Du kannst, wenn du willst – und du sollst wollen" kam in der Welt der Kinder rund um uns nicht vor.

Foto: Thomas Rottenberg

Dass wir, "de Kinda von de Lehra", so aufwuchsen, passte nicht. Nicht während des Jahres – und schon gar nicht nach und während des Urlaubs. Da kam dann nämlich noch etwas dazu:

Während die Buben beim Kicken auf der Wiese ihren Horizont mit "Dschelato" und Pizza erweiterten und ein paar Jahre später ihre ersten Sneak-Previews auf sich "oben ohne" sonnende Mädchen übertrieben (es waren die 80er-Jahre: Youporn gab es noch nicht – und in der Romantauschzentrale flogen wir raus, wenn wir nur in die Nähe der "Linkshändermagazine" kamen ...), konnte ich nur mit den Loire-Schlössern kontern. Mit Wanderungen über dänische Dünen. Mit Erzählungen vom Lake District. Mit dem Hadrianswall war man als Prä-Pubertel auf den Gstätten der Wienerberggründe eher nicht der Superheld.

Foto: Thomas Rottenberg

Kurz und bündig: Statt nach Jesolo oder an die anderen "Hausmeisterstrände" waren wir anderswohin gefahren. Später verlagerten und diversifizierten sich die Ziele dann – aber Jesolo, Caorle, Bibione oder auch Grado schafften es nie auf die Liste.

Aus 1001 Gründen. Und noch mehr Gefühlen.

Für die weder die Gegend noch der Strand noch die Promenade noch Italien oder sonst irgendwer etwas kann. Und schon gar nicht der Sonnenaufgang. Dieser Sonnenaufgang. Dieser Sonnenaufgang.

Foto: Thomas Rottenberg

Habe ich zu Beginn dieses Textes von der Belohnung für das Elend des Aufstehens gesprochen? Hier ist sie: Augenblicke wie diesen kann man mit Geld nicht kaufen.

Genau das macht sie unbezahlbar. Für mich zumindest. Für so einen Moment stehe ich gern auf. Wieder und wieder. Egal wo. Und es ist mir vollkommen egal, wie kitschig, abgeschmackt oder pathetisch solche Bilder und alle Metaphern im näheren und weiteren Umfeld sind.

Foto: Thomas Rottenberg

"Waiting for the sun" hatte ich mir im iPod für diesen Augenblick zurechtgelegt. Aber ich drückte die Stopptaste: "Enjoy the Silence" ist ebenfalls einer meiner Lieblingssongs – aber in solchen Momenten gibt es nichts Schöneres, als tatsächlich die Stille zu hören. Für mich jedenfalls.

Foto: Thomas Rottenberg

Freilich: So wirklich warm ist es um diese Uhrzeit nicht am Strand. Acht Grad, sagte die Aufzeichnung danach, hatte es angeblich gehabt, als ich losgelaufen war. Da dann verschwitzt auf einem Steg allzu lange einfach nur herumzusitzen, ist nicht die beste aller Ideen. Außer man ist warm eingepackt. Beim Laufen bin ich das aber in der Regel nie: also weiter.

Foto: Thomas Rottenberg

Was mich an Sonnenaufgangsszenarien jedes Mal wieder überrascht, ist die Geschwindigkeit, mit der nach dem Moment, in dem die Sonne über den Horizont steigt, dann der Tag tatsächlich zum Tag wird. Wie sich ein paar rötlich-gelbe Linien am Horizont festkrallen, sich aber sonst schlagartig das Blau einschaltet: Wir waren ja eigentlich nach Jesolo gekommen, um hier Herbst, entrische Leere und vielleicht sogar Nebel über der Adria zu erleben und zu zeigen.

Um ein ganz anderes Bild dieses sonst so überlaufenen, hektischen, lauten Areals zu zeichnen. So gesehen war die Reise ein totaler Reinfall: Es war Ende Oktober – und der Himmel war und blieb strahlend blau. Aber: So wirklich sauer war darüber niemand in meiner Gruppe. Und ich auch nicht. Ganz im Gegenteil.

Foto: Thomas Rottenberg

Anstelle des Nebels, anstelle der Entrücktheit und anstelle der mystisch-magischen Stimmung stieß ich aber dann auf etwas anderes. Nicht dass irgendein Touristiker oder Hotelier oder Regionalmanager diese Bilder verstecken oder verbergen oder totschweigen will. Aber: Laut darüber reden will halt auch keiner. Respektive: Im Grunde interessiert sich der Sommergast ja auch keine Sekunde dafür, was alles hier passiert, damit er dann, wenn er seine Liege bezieht, exakt das erlebt, sieht, hört, riecht und schmeckt, was er hier seit Jahren – vielleicht ja auch seit Generationen – erlebt, sieht, hört, riecht und schmeckt.

Jesolo – der Lido – ist im Herbst nämlich tot: Von den 400 Hotels haben keine zehn geöffnet. Die anderen haben die Fenster mit Holzplatten zugeplankt und Pools und Gartenanlagen mit Schutzfolien abgedeckt: Touristisch nichtet hier das Nichts – zumindest auf den ersten Blick.

Foto: Thomas Rottenberg

Auf den zweiten wird hier aber schon jetzt die nächste Saison vorbereitet: Jesolos Strand ist rund 15 Kilometer lang. Im Sommer sind hier tagtäglich zigtausende Menschen. Und auch wenn die im Grunde nichts anderes tun, als auf Liegen zu liegen, ab und zu ins Meer zu gehen, oder – dort, wo Platz ist – ein bisserl Pit-Pat, Beachvolleyball oder was auch immer zu spielen, ist das in Summe eine irre Belastung. Nicht nur für Ressourcen und Infrastruktur – auch für den Boden: Den Strand jetzt schon zu planieren und zu präparieren, den Sand jetzt schon dorthin zu schieben, wo man ihn dann im Sommer unmöglich mehr in den Mengen, die man dann braucht, hinbekommt, ist eine Aufgabe, gegen die sich das antike Ausmisten des Stalls des Augias durch Herkules wie eine Kinderjause ausmacht.

Foto: Thomas Rottenberg

Genau genommen ist Jesolos Lido nicht aufregend. Nicht wenn man Landschaften und Abwechslung sucht und liebt: 15 Kilometer (oder sind es 17?), die superflach und sanft ins Meer abfallen. Perfekt, wenn man mit Kindern Urlaub macht. Ideal, wenn man nicht mehr sucht als den Weg vom Hotel (egal ob erste oder zweite Reihe) zum Hotelstrand (ebenfalls: egal ob erste oder zweite Reihe), ab und zu ins Meer geht, sich dann wieder auf die reserviert-garantierte Liege fläzt und zwischendurch mal ein Eis, eine Pizza oder sonst was holt. Die meisten Urlauber wollen nichts anderes – und spazieren höchsten ein paar hundert Meter die Promenade hinauf und hinunter.

Foto: Thomas Rottenberg

Die wahre Monotonie dieser Strandinszenierung erschließt sich den meisten Touristen so nie. Das ist auch gut und richtig so: Die Menschen, die hierher kommen, sind glücklich – eben weil sie nicht mehr suchen als jenen Flecken Strand, auf dem ihre Liege steht. Einmal fährt man ins Shopping-Outlet. Einmal mit der Fähre hinüber nach Venedig: eine halbe Stunde auf dem Boot, dann einmal auf dem Trampelpfad im großen Gewühl Markusplatz–Rialto–Seufzerbrücke. Rasch zurück – und fertig.

Verstehen Sie mich nicht falsch: Jeder, wie er will – aber ich eben nicht, wie ich nicht will. Ich würde in so einem Urlaubssetting durchdrehen. Nach 20 Minuten. Eher schon nach zwölf.

Foto: Thomas Rottenberg

Umso mehr genoss ich es, diese Option für Plan B entdeckt und gefunden zu haben: Jesolo im Herbst kann was. Nicht nur wegen des Sonnenaufgangs – auch aus 1001 anderen Gründen, die für mich allesamt urlaubsentscheidend sein können: So wie ich jobbedingt an den Tagesrandzeiten trainiere, urlaube ich auch lieber an den Randzonen der Saison. Weil ich drauf stehe, den Strand unter den Liegen nicht bloß zu erahnen, sondern zu sehen. Und zu spüren. Weil ich Menschen zwar liebe, aber nicht ständig auf Tuchfühlung mit ihnen gehen muss. Weil ich den Komfort gut erschlossener und leicht erreichbarer Ziele durchaus zu schätzen weiß – aber nicht zwingend zur Hauptverkehrs- und Hochpreiszeit hier unterwegs sein will.

Foto: Thomas Rottenberg

Ich habe Jesolo im Sommer noch nie gesehen. Und ich muss es auch nicht haben. Aber Jesolo im Herbst kann was: Man kann hier im Herbst auf der Promenade – auch tagsüber – tatsächlich laufen. Man kann – auch wenn es nicht ganz legal ist – den Wuff überall mit an den Strand nehmen. Und sogar Rad fahren: Im Sommer ist es nämlich verboten. Obwohl das Verbot eigentlich unnötig ist: Im Sommer kämen angesichts der Menschenmengen nämlich nicht einmal Wiener "Ich radle aus Prinzip auch am dritten Weihnachtseinkaufssamstag durch die Mariahilfer Straße" Kampf- und Prinzipradler hier auf die Idee, ihr Rad mit an den Strand zu nehmen.

Foto: Thomas Rottenberg

Und dann ist da noch etwas: Ich mag Nebel. Und das Nieselig-melancholisch-Menschenleere, das ihn umflort. Zumindest im Herbst. Aber wenn es dann wetter- und sonnentechnisch so aussieht wie an diesem letzten Oktoberwochenende, beschwere ich mich natürlich auch nicht. Ganz im Gegenteil – und das liegt nicht nur daran, dass das Mittelmeer hier immer noch zehn Grad wärmer ist, als es der Wolfgangsee vor zwei Wochen war. (Thomas Rottenberg, 2.11.2016)

Mehr Geschichten vom Laufen gibt es unter www.derrottenberg.com

Die getrackte Route dieses Morgenlaufs gibt es hier.

Foto: Thomas Rottenberg