Datenjournalistin Caelainn Barr: "Es ist der menschliche Aspekt, weswegen sich die Leute mit einer Geschichte auseinandersetzen."

Foto: Linda Nylind

STANDARD: Was unterscheidet Datenjournalisten von "normalen" Journalisten?

Barr: Es muss irgendeine Form der Analyse geben – von Zahlen, von Sprache –, bevor die Geschichte erzählt werden kann. Aber wir sind immer noch Reporter: Wir versuchen, Daten als ein weiteres Werkzeug zu verwenden, um Geschichten zu finden. Zum Beispiel der Zustand des Bildungssystems: Wir können es als Ganzes anschauen und analysieren, wenn wir die richtigen Daten haben. Das verschafft Journalisten ein "empirisches Rückgrat".

STANDARD: Die Zahlen erzählen also nicht die Geschichte.

Barr: Genau. Ich versuche in meiner Arbeit immer hervorzuheben, dass wir zwar mit Zahlen berichten, aber immer noch Geschichten erzählen. Wir tun das mit Daten, aber wir erzählen Geschichten über Menschen.

STANDARD: Was zeichnet guten Datenjournalismus aus?

Barr: Einige der besten datenjournalistischen Arbeiten die ich kenne, enthalten keine einzige Zahl. Es kann also sein, dass Sie eine Datengeschichte lesen und das gar nicht mitbekommen. Denken Sie an große Kollaborationen wie die Panama Papers: Dabei handelte es sich um eine Datengeschichte. Es gab eine große Menge an Dokumenten, nämlich 11,5 Millionen, und die beteiligten Journalisten mussten irgendeine Form von Analyse betreiben, bevor sie zur Geschichte kamen.

STANDARD: Haben Sie das Gefühl, dass der Begriff Datenjournalismus für alles missbraucht wird, was neu oder digital ist?

Barr: Ja, das ist eine Herausforderung. Oft sieht man Stellenanzeigen für Datenjournalisten – und darin wird der Job eines Entwicklers oder eines visuellen Journalisten beschrieben.

STANDARD: Wie schwierig ist es, in dieser Sonderposition in einer Redaktion zu arbeiten?

Barr: Ich habe Glück, weil es schon vor mir Leute gab, die die Grenzen des "Guardian" erweiterten. Aber die Position des Datenteams ist einzigartig, weil wir ständig mit anderen Kollegen zusammenarbeiten. Das bringt natürlich jede Menge Herausforderungen, weil Redaktionen unter Druck stehen, um den täglichen Nachrichtenzyklus zu bewältigen. Da ist es schwierig, Ressourcen für längerfristige Recherchen zu bekommen.

STANDARD: Immer mehr Redaktionen beschäftigen Datenjournalisten – halten Sie das für einen Hype?

Barr: Ein bisschen. Datenjournalismus bringt einzigartige Geschichten, die andere Medien nicht haben. Aber wir müssen auch wirklich vorsichtig sein, wie wir Daten in Geschichten verwenden. Eine Sache haben wir definitiv herausgefunden: Leute interessieren sich nicht für Zahlengeschichten. Es ist der menschliche Aspekt, weswegen sie sich mit einer Geschichte auseinandersetzen.

STANDARD: Es gibt die Vorstellung, dass Menschen Journalisten werden, weil sie gerne Geschichten erzählen und Mathe hassen. Sie haben zwei Tage damit verbracht, jungen österreichischen Journalisten Datenjournalismus beizubringen. Sind Sie auf Widerstand gestoßen?

Barr: Ich habe keinen gespürt. Viele Leute fürchten sich davor, über Zahlen zu sprechen, weil sie falsch liegen könnten. Aber je mehr man mit Zahlen arbeitet, desto besser wird es. Ich habe selbst keinen "Zahlenhintergrund". Aber Sie haben recht: Die meisten Journalisten mit denen ich arbeite, haben den Job gewählt, damit sie nie wieder eine Zahl anschauen müssen. Das ist ein Problem, denn es gibt so viele Themen, wo grundlegende Arithmetik sehr wichtig ist. Man sollte immer in der Lage sein, die Zahlen in einer Presseaussendung zu überprüfen.

STANDARD: Also waren Sie selbst nicht immer ein Zahlenmensch?

Barr: Oh Gott, nein. Ich verstehe es sehr gut, wenn Leute keine Zahlen sehen wollen.

STANDARD: Sie waren Teil eines Teams, das den Missbrauch von Fördergeldern seitens der Europäischen Kommission aufdeckte. Was war dabei die größte Herausforderung?

Barr: Die größte Herausforderung war, die Daten zusammenzuziehen. Das schmutzige Geheimnis des Datenjournalismus ist, dass 80 Prozent der Zeit genutzt werden, um Daten zu besorgen, zu säubern, zu strukturieren. Der vergnügliche Teil sind die Analyse und das Schreiben. Für dieses Projekt haben wir mehr als eine halbe Million Akten zusammengestückelt, zu 347 Milliarden Euro, die die Kommission an Mitgliedsstaaten für Straßenbau und soziale Projekte vergibt. Damals – und soweit ich weiß, ist es heute noch so – gab es keine zentrale Datenbank dazu, wofür das Geld ausgegeben wird. Es war also aufgelegt, dass wir dort nach Geschichten suchen.

STANDARD: Es gibt ein Informationsfreiheitgesetz in Großbritannien – ist es dennoch schwierig, Daten von Behörden zu bekommen?

Barr: Ja. Der FOI-Act (Freedom of Information Act, Anm.) wurde im Jahr 2000 eingeführt. Es ist besser geworden, aber es gibt immer noch viele Probleme. Ich verschicke wahrscheinlich ein paar Mal pro Monat einen Antrag nach dem FOI-Act. Wir bekommen immer noch viele ablehnende Bescheide. Es ist trotzdem toll, dass wir den FOI-Act haben. Ich weiß, dass es in Österreich nichts dergleichen gibt, es aber diskutiert wird …

STANDARD: Schon seit einiger Zeit. Medienminister Thomas Drozda scheint nun eine schnelle Umsetzung anzustreben. Was darf in einem solchen Gesetz nicht fehlen?

Barr: Ein Gesetz mit vielen Ausnahmen ist fast das Gleiche wie überhaupt kein Gesetz. Wenn eine britische Behörde etwa meint, dass die Beantwortung einer Anfrage einen gewissen Aufwand übersteigt, kann sie sie ablehnen. In Großbritannien gibt es viele Public-Private-Partnerships, wo öffentliche Aufgaben privatisiert werden. Will man etwa Informationen dazu, wie ein privat betriebenes Gefängnis geführt wird, bekommt man Probleme aufgrund von Verschwiegenheitsklauseln in den Verträgen mit der Regierung. Das ist sehr frustrierend, denn es wird immer noch vom Steuerzahler, vom Bürger bezahlt. Wenn wir mehr Rechenschaft darüber wollen, wie unser Geld im öffentlichen Bereich verwendet wird, sollten wir sehen können, wohin es fließt und wofür es verwendet wird. (Sebastian Fellner, 2.11.2016)