Brüssel – EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker will bei künftigen Handelsabkommen das Europaparlament und die Öffentlichkeit frühzeitig einbinden. Angesichts der Kritik und der Verzögerungen bei dem am Sonntag unterzeichneten EU-Kanada-Vertrag sagt Juncker im STANDARD-Interview, mit der bisherigen Vorgangsweise sei der Eindruck entstanden, dass Verhandlungen im Hinterzimmer stattfänden: "Das kann man so nicht mehr machen."

Zu Ceta stellt er klar, dass der auf EU-Kompetenzen beruhende Teil des Vertrags mit Jahreswechsel in Kraft treten werde. In dem Gespräch zieht Juncker mit ungewöhnlich offenen Worten eine Bilanz über die ersten zwei Jahre seiner Kommission, die am 1. November 2014 angetreten war. Dass die Regierungen der Mitgliedsstaaten bei der Migrationspolitk und der Aufteilung von Kriegsflüchtlingen zwar gemeinsame Beschlüsse gefasst haben, dann aber "unser eigenes Recht nicht mehr respektieren, (da) gehen wir einen gefährlichen und abenteuerlichen Weg ein".

Es seien zudem Deutschland und Österreich gewesen, die eine gemeinsame Kontrolle der EU-Außengrenze lange abgelehnt und auf nationalen Kontrollen bestanden hätten. Den Streit mit Österreich um die Grenzschließung auf dem Balkan sieht er aber durch Bundeskanzler Christian Kern ausgeräumt. Es gebe wieder ein "hervorragendes Auskommen" mit Österreich.

Juncker warnt eindringlich vor dem Vormarsch der Rechtspopulisten, den Folgen der "rechtspopulistischen Vereinfachungs- und Verführungsmaschine", die wieder angeworfen worden sei: "Wenn man europäische Geschichte kennt, weiß man, was daraus entsteht." Daher müsse man den Anfängen wehren. Allerdings komme derzeit erschwerend hinzu, "dass auch politische Familien und ganze Regierungen die Populisten nachäffen", sagt Juncker. Das halte er für einen "hochgefährlichen Trend, der sich langsam, aber sicher in die europäische Landschaft hineinfrisst".

Keine Illusionen macht sich Juncker über die Tragweite des EU-Austritts der Briten. Der Brexit sei ein "epochaler Einschnitt". Solange das Thema nicht erledigt sei, sei auch an eine Reform der EU-Verträge und eine Neuausrichtung der 27 verbleibenden EU-Staaten nicht zu denken. Diese seien auch keineswegs so einig über das weitere gemeinsame Vorgehen, wie viele glaubten.

Der Kommissionspräsident lehnt auch das Modell der Vereinigten Staaten von Europa klar ab: Man müsse beim Übertragen von Kompetenzen der Länder an die Union behutsam vorgehen, um die Bürger mitzunehmen. Große Sorgen bereitet ihm offenbar die sicherheitspolitische Lage rund um Europa, die "das Überschwappen von Kriegen" nicht undenkbar erscheinen lasse. Europa habe in der Welt von morgen große Chancen, aber "die Welt ist für Europa gefährlicher geworden", die Krisen und Kriege seien der Union sehr nahe gerückt.

Kommissionpräsident Jean-Claude Juncker im ausführlichen STANDARD-Interview mit Thomas Mayer.
Foto: Thomas Mayer/STANDARD

STANDARD: Nach dem chaotischen Hin und Her um die Absage des EU-Kanada-Gipfels ging es dann doch überraschend schnell mit der Unterzeichnung des Freihandelsabkommens. Wozu der Zeitdruck?

Juncker: Der Abkommen hätte auch von den Handelsministern unterzeichnet werden und der Gipfel später stattfinden können. Wichtig war nicht, wann unterschrieben wird, sondern wichtig ist, dass unterschrieben wurde. Ich bin zufrieden, dass es für 28 Regierungen unterschriftsreif wurde. Der Rest waren technisch-organisatorische Dinge.

STANDARD: Es steht also fest, dass der Pakt provisorisch am 1. Jänner starten wird?

Juncker: Ja.

STANDARD: Viele Bürger stellen sich die Frage, was genau dann in Kraft tritt und was erst noch im Ratifizierungsverfahren in den nationalen Parlamenten entschieden werden muss. Wie ist das?

Juncker: Es wird der Teil in Kraft treten, der nur die Kompetenzen der Europäischen Union betrifft. Was die Mitgliedsstaaten angeht, wird nicht in Kraft treten. Dabei ist besonders die Investitionsschutzklausel erwähnenswert: Die wird erst nach Zustimmung der verschiedenen Parlamente auf nationaler und regionaler Ebene in Kraft treten können.

STANDARD: Hat sich durch die Erklärungen, die Belgien zuletzt verlangte, etwas am Vertrag geändert?

Juncker: Es wird sich an dem, was vor dem belgischen Intermezzo auf dem Tisch lag, inhaltlich nichts ändern. Was wir in mühseliger Kleinarbeit als Kommission mit den belgischen Partnern in die Wege geleitet haben, sind Präzisierungen, begriffliche Klarstellungen, die uns keine großen Anstrengungen abverlangt haben, weil wir das sehr ähnlich sehen, wenn nicht sogar identisch wie die belgischen Gesprächspartner.

STANDARD: Was meinen Sie damit genau?

Juncker: Das trifft auch auf das zu, was ich mit Bundeskanzler Christian Kern besprochen habe. Was nachgereicht wurde, sind eigentlich Begriffsbestimmungen, die aber – das muss man betonen – bei der gemeinsamen Interpretation des Vertrags helfen.

Juncker über Ceta: "Wir gehen davon aus, dass das Kanada-Abkommen in Europa 200.000 Arbeitsplätze schaffen wird."
Thomas Mayer/STANDARD

STANDARD: Bürger, die nicht die Zeit haben, tausende Seiten an Vertragsinhalten zu lesen, stellen sich eine viel einfachere Frage: Was ändert sich mit Ceta, was bedeutet das für mein Leben?

Juncker: Ich bin mir nicht sicher, dass man von Tag eins an direkt etwas merken wird. Bevor sich so ein Handelsvertrag entfaltet, braucht es eine gewisse Zeit. Wir als Europäer kriegen Zugang zu allen kanadischen Märkten, inklusive den Provinzen. Letzteres ist deshalb so wichtig, weil die Wirtschaft in Kanada in erster Linie in den Provinzen stattfindet, nicht so sehr in der Hauptstadt. Vieles von dem, was man dem Ceta-Vertrag unterstellt hat, wird nicht passieren – dass er zum Beispiel die Daseinsfürsorge bei uns negativ beeinflussen würde oder dass es zur Privatisierung der Wasserversorgung käme oder zu einem massenhaften Import von hormongetriebenen Agrarprodukten. Da müssen unsere Bürger nicht beunruhigt sein.

STANDARD: Was haben die Europäer davon?

Juncker: Nach einer gewissen Laufzeit wird es sich auf die Beschäftigungslage auswirken. Wir gehen davon aus, dass das Kanada-Abkommen in Europa 200.000 Arbeitsplätze schaffen wird, netto. Ich bin bei solchen Zahlen selber immer sehr vorsichtig, sage das aber deshalb, weil ich analog dazu immer mitdenke, was andere Handelsabkommen der EU gebracht haben, zum Beispiel mit Südkorea. Ich weiß, dass es historisch und empirisch immer so war, dass eine zusätzliche Exportmilliarde rund 14.000 Arbeitsplätze bringt, so viel kann man aus Statistiken ableiten. Das wird den Bürgern zugutekommen, auch wenn sie nicht unmittelbar spüren werden, dass es mit Ceta zu tun hat.

STANDARD: Warum neben den klassischen Handelserleichterungen wie Wegfall der Zölle unbedingt den regulativen Bereich dazunehmen, warum Investoren extra schützen?

Juncker: Dass man im Vertrag zu den Investitionsschutzmaßnahmen etwas sagt, ist normal. Das ist bei allen Handelsverträgen so. Die EU hat rund 140 Handelsverträge in der ganzen Welt verhandelt oder ist dabei, das zu tun. Man muss Streitfälle regeln können. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass mein Vorgänger José Manuel Barroso und der Präsident des Europäischen Rats, Herman Van Rompuy, 2014 einen Vertrag paraphiert haben, der noch die alte Regelung, die privaten Schiedsgerichte, vorsah.

STANDARD: Die berüchtigten ISDS, die als völlig intransparent kritisiert wurden, mit Anwälten statt Richtern, ohne Berufungsmöglichkeit. Das wurde geändert. Warum?

Juncker: Ich habe bereits in Gesprächen mit dem kanadischen Premier Stephan Harper, also schon dem Vorgänger von Justin Trudeau, mehrfach darauf gedrängt, dass man dieses Kapitel wieder aufmachen soll, um eine andere Form der internationalen Gerichtsbarkeit zu bekommen, näher an den normalen juristischen Verläufen. Ich habe ihm gesagt, das kann sonst in Europa nicht laufen. Das hat er dann gemacht. Deshalb war ich auch ihm gegenüber später etwas geniert, peinlich berührt, weil die Kanadier das gemacht haben, obwohl der Vertrag schon paraphiert war.

STANDARD: Also ist es so, dass die Probleme mit Ceta eher auf der europäischen Seite lagen?

Juncker: Ich schreibe mir schon zu, dass ich die Kanadier dazu bewegt habe, diese Investitionsgerichte auf den Prüfstand zu stellen. Deshalb war es mir peinlich, als man zuletzt plötzlich anfing, so zu tun, als würden auch andere Vertragsbestimmungen zur Revision anstehen. Das war nicht so. Mit den Belgiern hat man Präzisierungen vorgenommen, etwa wie die Richter in diesen Investitionsgerichten ernannt werden, wie sie bezahlt werden und einiges mehr.

STANDARD: Und warum muss der regulatorische Bereich einbezogen werden, etwa in Umweltfragen, und nicht nur einfach Produkte?

Juncker: Ich glaube, wir müssen uns in Zukunft stärker auf zweierlei konzentrieren. Erstens, nicht alles was zur Regelung anstehen könnte, sollte in solche Vertragstexte gepackt werden. Sie werden sonst zu voluminös, unübersichtlich, geben Anlass zu vielen Unterstellungen, und das ist nicht gut. Man sollte diese Handelsabkommen in Zukunft etwas kürzer fassen, konzentrierter auf das, worum es eigentlich geht, und anderes beiseitelassen, es sei denn, dass einzelne Vertragsparteien das ausdrücklich wünschen. Wir brauchen dazu eigentlich eine permanente Debatte in Europa, weil viele sich wirklich überrumpelt fühlen angesichts der Fülle der Bestimmungen.

STANDARD: Was ist der zweite Punkt, den man neu betrachten sollte?

Juncker: Man müsste von Anfang an deutlicher machen, welche Teile eines Handelsvertrags durch die Europäische Union, also Kommission, Rat und Parlament, zu ratifizieren sind und welche Teile den nationalen Parlamenten zur Genehmigung zuzuweisen sind. Das wäre sinnvoll, damit wir diese Debatte, wie wir sie jetzt hatten, nicht nochmals erleben müssen.

STANDARD: Das bedeutet aber, dass man auch über das Zustandekommen des EU-Verhandlungsmandats nachdenken muss. Das EU-Parlament verlangt, dabei eingebunden zu werden. Sind Sie dafür?

Juncker: Ich hätte das gerne, obwohl es dem EU-Vertrag nach eigentlich eine Aufgabe der Kommission ist. Es sollte eine Vordebatte im Europäischen Parlament geben, auch über Teile des Mandats. Das wäre im Sinne der Kommission, weil wir dann Richtlinien in der Hand haben, die es uns erlauben, uns an ihnen entlang zu bewegen, konzentriert zu Ergebnissen zu kommen. Und das könnte geschehen, ohne dass man die Grundkompetenz der Kommission infrage stellt. Seit dem EU-Vertrag von Lissabon ist es so, dass sie für Außenhandelsbeziehungen zuständig ist.

STANDARD: Das bedeutet, das EU-Parlament könnte mitreden, aber nicht mitbestimmen, das Verhandlungsmandat würde nach wie vor im Rat beschlossen werden?

Juncker: Ja. Und ich wünsche mir auch eine viel breitere öffentliche Diskussion. Was mich stört, ist, dass sehr viele denken, man würde ihnen nicht sagen, was Sache sein wird, wenn man Außenhandelsverträge verhandelt, man würde ihnen vieles verschweigen. Das gilt nicht nur bei den Nichtregierungsorganisationen, sondern auch beim breiten Verbraucherpublikum. Daher halte ich es doch aus demokratiepolitischen Gründen und Prinzipien für unabdingbar notwendig, in der Breite und in der Tiefe mehr zu informieren als bisher.

STANDARD: Wo lagen dabei in der Vergangenheit die Fehler? Warum haben so viele Bürger fast das Gefühl, die EU-Kommission wolle sie übers Ohr hauen, indem sie so wichtige Dinge einfach durchpeitsche?

Juncker: Ich möchte mich da jetzt nicht auf Kosten meiner Vorgänger solchen Fragen entziehen, aber ich habe Ceta abschlussreif vorgefunden.

Juncker über TTIP: "Das geplante Handelsabkommen der EU mit den USA habe ich in einem, sagen wir, nicht ganz transparenten Raum vorgefunden."
Thomas Mayer/STANDARD

STANDARD: Sie traten Ihr Amt im November 2014 an.

Juncker: Ja, und auch TTIP, das geplante Handelsabkommen der EU mit den USA, habe ich in einem, sagen wir, nicht ganz transparenten Raum vorgefunden. Ich möchte das ganz anders machen, weil die Art, wie wir verhandeln – dass wir nicht ständig auch Informationsarbeit in den Mittelpunkt stellen –, erst den Eindruck erzeugt, als ob in Hinterzimmern und abgedunkelten Räumen etwas ausgehandelt wird. Das kann man so nicht mehr machen. Bei allem Missvergnügen über die Lügenkampagnen, die bei Ceta und teilweise auch bei TTIP gelaufen sind und noch laufen, muss man reagieren. Ich merke auch in vielen Bürgergesprächen, dass die Leute einfach nur wissen wollen, worum es geht, wer was macht. Da müssen wir nachbessern.

STANDARD: Was bedeutet das für die laufenden Verhandlungen zu TTIP? Wird es dazu bereits einen neuen Ansatz geben?

Juncker: Ich glaube nicht, dass wir einen ganz neuen Ansatz brauchen. Es gibt das Mandat, das von den Staats- und Regierungschefs beim Europäischen Rat im Juni bestätigt wurde. Aber wir werden maximal informieren, wobei ich die Informationslust der Menschen nicht überbewerte. Es gibt bereits viele Zugänge zu Informationen, die werden aber nicht maximal genutzt, weder von NGOs noch von anderen.

STANDARD: In der Rede zur Lage der Union im September haben Sie ungewöhnlich offen und hart Kritik geübt. Sie haben unter Verweis auf Ihre Erfahrung in 30 Jahren Europapolitik festgestellt, sie könnten sich nicht erinnern, dass die Ziele und die Arbeit der EU-Institutionen und der Staaten so weit auseinanderklafften wie derzeit, der nationale Egoismus so stark war, vom Syrien-Konflikt bis zur Migrationskrise. Was bedeutet das?

Juncker: Ich habe noch nie in einem so großen Umfang wie heute erlebt, dass die Regierungen der Nationalstaaten in Brüssel Entscheidungen treffen, ob einstimmig oder mit Mehrheit, und sich dann ihren eigenen Entscheidungen nicht verpflichtet fühlen, zumindest in Teilen. Das ist für mich deshalb ein bewegendes Thema, weil die Europäische Union zuerst eine auf dem Recht beruhende Gemeinschaft ist. Wenn wir unser eigenes Recht nicht mehr respektieren, schlagen wir einen gefährlichen, einen abenteuerlichen Weg ein.

STANDARD: Da spricht jetzt der studierte Jurist und Rechtsanwalt, nicht der Politiker?

Juncker: Nein, das sage ich, weil die Menschen die Sicherheit haben müssen, dass in Europa regelkonform entschieden wird. Man kann nicht Regeln in die Welt setzen und sich davon wieder verabschieden, wenn man wieder zu Hause angekommen ist.

STANDARD: Vor zweieinhalb Jahren sind Sie angetreten, um die Krise zu überwinden, die EU attraktiver zu machen, jetzt gibt es noch mehr Krisen und Zulauf zu Populismus und Nationalismus. Haben Sie sich das so vorgestellt?

Juncker: Wir haben es mit einer Verdichtung der Probleme zu tun. Am Anfang des Mandats der Kommission habe ich zwei Krisensektoren ausgemacht: zuerst die Wirtschafts- und Finanzkrise, da ist inzwischen auch viel geschehen, im guten Sinne; und ich hatte sehr früh auf die Migrationskrise aufmerksam gemacht, im Juli 2014.

STANDARD: Nach den EU-Wahlen in ihrer Antrittsrede vor dem Europäischen Parlament. Warum wurde das Flüchtlingsthema ignoriert?

Juncker: Man hat dem weder im EU-Parlament noch in den Medien größere Beachtung geschenkt, weil das, was danach passiert ist, noch nicht ersichtlich war. Ich hatte mich damals in der Vorbereitung auf das Mandat der Kommission sehr intensiv damit beschäftigt, was in der Welt um uns los ist. Mit Blick auf die tatsächlichen Vorgänge hat mich das zu dem Schluss gebracht, dass das auf uns zukommt, und deshalb habe ich es zu einer Priorität der Kommission erklärt. Ich sagte damals, wir müssten uns eine Migrationsagenda geben.

STANDARD: Warum wurde das nicht ernst genommen von den Regierungen der Mitgliedsstaaten, den Hauptbetroffenen?

Juncker: Wir sind als Kommission im November 2014 angetreten, im Mai 2015 haben wir eine vollständige Migrationsagenda vorgelegt, die nicht auf spontane Zustimmung der Mitgliedsstaaten stieß. Dann sind wir in ein Polykrisenszenario geraten.

STANDARD: Zur Einordnung, es ging damals in der Öffentlichkeit vor allem um den Streit über einen Austritt Griechenlands aus der Währungsunion. Syriza war im Jänner in die Regierung gekommen, Finanzminister Yanis Varoufakis war monatelang in aller Munde.

Juncker: Ja, ich habe das erste Halbjahr 2015 intensiv mit dem Thema Griechenland zugebracht, weil die Gefahr bestand, dass das Land aus der Währungszone ausscheiden würde, müsste, rausgeworfen werden sollte. Das habe ich in vielen Gesprächen zu verhindern gewusst mit der Hilfe einiger anderer und gegen den Willen einiger anderer. Ich bilde mir darauf eigentlich einiges ein. Wenn es zu Anfang der Amtsperiode eine Zerstückelung der Eurozone gegeben hätte, die viele Gefahren nach sich gezogen hätte, dann hätten wir einen Teil des europäischen Grundkonsenses aufgegeben. Der besteht darin, dass man jemanden nicht alleine lassen darf, der sich selbstverschuldet in eine sozioökonomisch-fiskalische Falle begeben hat oder auch durch andere Ereignisse dahin geschoben wurde.

STANDARD: Das erinnert an die heutige Zersplitterung der Staaten bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise, den Mangel an Solidarität der EU-Staaten untereinander.

Juncker: Mein Ansatz war ja eben auch in der Migrationskrise schon 2014, dass man Italien und Griechenland nicht alleine lassen darf. Dieser Auffassung bin ich immer noch.

STANDARD: Was war der Grund, dass die Mitgliedsländer, auch Deutschland, diese Migrationsagenda noch vor dem Sommer 2015, bevor die große Flüchtlingswelle über die Balkanroute begann, von sich weggeschoben haben?

Juncker: Weil viele sich damals nicht mit dem Gedanken anfreunden konnten, dass wir einen gemeinsamen Schutz der Außengrenzen brauchen, sie haben sich dagegen gewehrt. Sie waren der Auffassung, das sei Sache der Nationalstaaten. Meine Auffassung war, dass es eine gemeinsame Aufgabe ist, weil wir nur eine gemeinsame Außengrenze haben. Man muss dazusagen, dass bereits die Vorgängerkommission, etwa bereits 2002 und 2008, also vor mehr als zehn Jahren, entsprechende Vorschläge gemacht hatten. Das wurde vor allem von Deutschland und von Österreich massiv abgelehnt, von Frankreich auch. Wir haben am 15. Dezember 2015 einen neuen Vorschlag zum Schutz der Außengrenzen gemacht, es hat rechtlich bis Juli 2016, de facto sogar bis Oktober, gedauert, bis es zur Beschlussfassung kam. Nach europäischen Parametern ist das eine sehr kurze Zeit. Es wenn man die Dringlichkeit in Betracht zieht, hat es zu lange gedauert.

Juncker über die Kritik an Österreich im Frühjahr: "Zwischen zwei Schengen-Ländern kann man nicht einfach Grenzkontrollen einführen, ohne die vorgesehenen Prozeduren von Anfang an zu beachten."
Thomas Mayer/STANDARD

STANDARD: Die Kommission hat Österreich im Frühjahr hart kritisiert, weil es mit den Balkanstaaten die Grenzen für irreguläre Migranten geschlossen hat. War das ein Fehler der Kommission?

Juncker: Nein, das war kein Fehler. Es ist bekannt, dass ich die Österreicher sehr mag, vor allem meine Tiroler. Aber zwischen zwei Schengen-Ländern kann man nicht einfach Grenzkontrollen einführen, ohne die vorgesehenen Prozeduren von Anfang an zu beachten und die anderen zu informieren. Das hat sich aber inzwischen besänftigt. Ich habe mit Bundeskanzler Christian Kern inzwischen wirklich ein hervorragendes Auskommen, und diese Probleme gibt es nicht mehr.

STANDARD: Zeigt all das von Ihnen Geschilderte nicht ein Grundproblem der Union, dass der Übergang von der nationalstaatlichen Ebene zur europäischen Ebene nicht und nicht gelingt – bei allen wesentlichen Fragen? Wir sind nationalstaatlich geboren, denken so, orientieren uns so, können dann nur schwer akzeptieren und auch verstehen, dass immer mehr Kompetenz auf Europa übergeht. Genau an dem Punkt setzen die Rechtspopulisten an, feiern gerade quer durch Europa Erfolge.

Juncker: Das ist eine fast schon ewige Substanzfrage der Union. Wenn die Souveränitätsübertragung zu guten Ergebnissen führt, dann stört es die Menschen auch nicht mehr. Am Anfang spürt man das noch, mit der Zeit nicht mehr, aber immer, wenn es um eine neue Übertragung von Souveränität geht, bricht teilweise großes Entsetzen aus.

STANDARD: Ein Beispiel?

Juncker: Der Euro. Die Menschen spüren heute, ohne dass sie das im Detail erläutern können, dass der Euro uns während der Finanz- und Wirtschaftskrise massiv geschützt hat. Wenn es die gemeinsame Währung nicht gegeben hätte, hätte jede nationale Notenbank ihr eigenes Ding gemacht, und dann wäre es zu einem Währungskrieg in Europa gekommen. Das hatten wir in Europa Anfang der 1990er-Jahre, als Großbritannien aus dem Europäischen Währungssystem ausgeschieden ist. Kaum jemand mag sich noch daran erinnern. Das führt zu riesigen Verwerfungen, die jeweils Anpassungen von Wechselkursen mit sich bringen. Mit dem Euro gibt es diese Verwerfungen nicht mehr. Die Leute haben sich daran gewöhnt und finden das inzwischen auch ganz normal, obwohl das am Anfang gar nicht normal war. Der Euro hat gezeigt, was er kann. Folgerungen, die sich aus Souveränitätsübertragungen ergeben, die nehmen die Menschen auch hin.

STANDARD: Es gibt aber quer durch Europa erfolgreiche EU-skeptische Parteien, die genau das verhindern wollen.

Juncker: Was Menschen von der Wirkung auf sie her in die Zukunft hinein nicht richtig abschätzen können, das erfüllt sie mit einem Gefühl von Ängstlichkeit. Sie wollen nicht zustimmen, weil es sie von den traditionellen Referenzparametern, den sicheren Räumen zum Beispiel, wo wir geboren wurden, entfernt. Es stürzt die Menschen in ein unbekanntes Land. Menschen brauchen Nähe. Die Nähe ist der Raum, in den man hineingeboren wird. Wir mögen unsere Landschaften, unsere Traditionen, unsere Kulturen, das, was wir kennen, auch was wir unter Umständen zu verändern bereit sind, aber wir möchten nicht, dass diese Veränderung durch Europa passiert. Deshalb sage ich ja immer, Europa kann man nicht gegen die Nationen, gegen die Nationalstaaten entwickeln. Darauf muss man achten.

STANDARD: Kritiker, nicht zuletzt die Briten, werfen Ihnen aber vor, Sie wollten eine Art europäischen Superstaat schaffen.

Juncker: Man darf nicht die von den Menschen angenommenen Lebensräume von außen her zerstören. Man glaubt gerne an das, was war. Aber man kann sich nur schwer vorstellen, dass man auch an das glauben muss, was man als Zukunftsentwurf vorgelegt bekommt. Man muss Tiroler, Österreicher und Europäer sein. Das sind Dinge, die zusammengehören. Deshalb muss man auch sehr auf die Subsidiarität achten. Was die Länder, die Regionen, die Bundesländer besser tun können als Brüssel, das soll man die machen lassen. Unser Leitmotiv ist deshalb: Europa muss groß sein in großen Dingen, aber klein in kleinen Dingen.

STANDARD: Besteht die Gefahr, dass Europa auseinanderbricht, weil diese Balance nicht gelingt, weil man sich wieder auf den Nationalismus zurückzieht vor dem Hintergrund, dass auch Digitalisierung und Globalisierung das Leben vieler Menschen auf den Kopf stellen? Wo ist das Versagen der Kommission dabei?

Juncker: Zum Ersten, es gibt eine spürbare Diskrepanz zwischen dem gefühlten Europa und dem wirklich existierenden Europa. Viele Menschen in unseren Staaten denken, die Union sei für alles zuständig. Das ist in Wahrheit nicht so. Zweitens, man vermittelt es ihnen schlecht. Das wäre auch eine Aufgabe der EU-Institutionen, der sie nicht ganz gerecht werden. Die Menschen haben immer Zweifel an politischen Aussagen. Wenn etwas gut läuft, dann verbuchen das die nationalen Regierungen für sich selbst. Wenn etwas schiefgeht, wird die Europäische Union haftbar gemacht, auch wenn es durch nationale Regierungen verursacht wird. Ein Beispiel: Man sagt oft, die Union habe in der Flüchtlingsfrage, bei der Migrationsfrage versagt. Das ist aber nicht so. Es ist so, dass einige Mitgliedsstaaten nicht das tun, was sie aufgrund der auch von ihnen selbst gesetzten Rechtsnorm eigentlich zu tun hätten.

STANDARD: Woher kommen aber diese starken Emotionen gegen "die EU"? Das ist unübersehbar, finden Sie nicht?

Juncker: Es gibt eine zunehmende Distanz der Bürger auch zu ihrem eigenen Nationalstaat, insofern, als sie ihren eigenen Regierungen mehr Misstrauen als Vertrauen entgegenbringen. Und diese Distanz wird auf die europäische Ebene übertragen, weil Brüssel eben noch weiter entfernt ist als zum Beispiel Innsbruck von Wien. Das ergibt so ein Gefühlsgemisch. Brüssel, das ist irgendwo, aber dieses Irgendwo wird als etwas beschrieben, wo etwas passiert, was man selber nicht unter Kontrolle hat. Es gibt in der EU keine Regierung, es gibt nur eine Kommission, die man aber durch eine direkte Wahl nicht abstrafen kann. Man kann durch die Europawahl Richtungen vorgeben, aber man hat nicht das Gefühl, dass man die Kommissare kontrollieren kann, obwohl sie vom Europäischen Parlament kontrolliert werden. Manche haben sogar das Gefühl, dass das Parlament nicht im Sinne der Bürger die Verantwortung übernimmt.

STANDARD: Das ist die Diagnose. Millionen Bürger stellen sich die Frage, wie kommen wir raus aus dieser Blockade, aus dieser Lähmung. Was kann der Kommissionspräsident dazu beitragen?

Juncker: Wir haben das Motto "Groß in den großen Dingen und bescheiden in den kleinen Dingen" ausgegeben. Daran halten wir uns auch. Wir erklären aber nicht oft genug, was wir tun, und wir sagen vor allem nicht, was wir nicht tun. Das ist ein kompliziertes Kommunikationsgemetzel, wenn man bei jeder Initiative sagt, was man tun wird, und gleichzeitig dazusagt, was man unterlässt. Aber das müsste man eigentlich tun.

STANDARD: Können Sie das konkret erläutern?

Juncker: Meine Kommission hat im vergangenen Jahr 23 Gesetzesinitiativen gemacht, dieses Jahr werden es 21 sein. Die Vorgängerkommission hat 130 Initiativen pro Jahr gestartet. Wir nehmen uns also sehr zurück.

STANDARD: Vermutlich wissen die wenigsten Bürger in Europa darüber Bescheid.

Juncker: Das weiß ich. Die Menschen nehmen zur Kenntnis, wenn man Aktivitäten übertreibt, aber nicht, wenn man sich vernünftig in die Zukunft bewegt. Da müssen wir nacharbeiten.

STANDARD: Da geht es der Kommission nicht anders als Regierungen oder auch Zeitungen. Es ist auch nicht ganz einfach, die Komplexität der europäischen Politik zu vermitteln.

Juncker: Das ist etwas, was mich seit langem umtreibt. Es ist zwar auch im Nationalstaat so, dass die Bürger nicht immer hundertprozentig wissen, was in einem Gesetzesvorhaben steht. Wer liest schon Parlamentsberichte, Erwägungsgründe von Regierungen. Es gibt eine Form des Desinteresses an den Vorgängen, in die man Einblick haben könnte, wenn man wollte. Wenn man aber von Brüssel aus mit dem Rest Europas kommunizieren muss, noch dazu in 24 Sprachen, dann ist das fast nicht zu schaffen. Das große Problem der Vermittelbarkeit europäischer Politik ist auch ein Sprachenproblem. Es wird zwar alles übersetzt, auch Pressekonferenzen, aber trotzdem ist es so. Ich mache diesbezüglich die erstaunlichsten Erfahrungen. Ich versuche immer, in drei Sprachen zu reden, auch weil ich es leid bin, dass meistens Englisch geredet wird, bestenfalls auch Französisch. Deutsch wurde in letzter Zeit schon überhaupt nicht mehr geredet.

STANDARD: Sie halten Ihre Reden meisten in diesen drei Arbeitssprachen, warum?

Juncker: Die Ausdrucksweise, derer ich mich im Deutschen bediene, ist nicht eins zu eins in andere Sprachen übertragbar. Im Französischen auch nicht. Ich merke das oft, wenn ich nach Pressekonferenzen nach EU-Gipfeln die Medienberichte vergleiche. Ich lese die Zeitungen in fünf Sprachen, das sind dann schon sehr verschiedene Storys, die da auf den Weg gebracht werden. Und ich kriege auch den Pressespiegel, so habe ich in Kurzform einen Überblick über die 28 Staaten. Aber auch schon aus dieser kurzen Zusammenfassung wird deutlich, dass das, was als Botschaft in Nordrhein-Westfalen ankommt, so nicht in der Südslowakei ankommt. Es ist einfach so, und ich verzweifle an dieser Schwierigkeit. Das kann ich schwer überbrücken, es ist auch ein Sprachproblem.

STANDARD: Sie sind von der ersten Woche Ihrer Amtszeit an scharf kritisiert worden, die Briten haben eine Politik des EU-"Zentralismus" angeprangert, die Osteuropäer die Flüchtlingsquoten.

Juncker: Es gibt diese Verzerrungen in dem, was in Medien mitgeteilt wird, weil man denkt, dass der Kommissionspräsident ein blindgewordener Föderalist sei. Das ist überhaupt nicht der Fall. Ich habe mehrfach gesagt, dass ich nicht für das Konzept der Vereinigten Staaten von Europa bin, weil es an den Menschen vorbeigeht. Sie empfinden eine derartige Ansage, eine Zielsetzung dieser Natur als eine offene Bedrohung dessen, was sie eigentlich sind. Deshalb sollte man bei der Wortwahl sehr aufpassen, wenn man von der europäischen Konstruktion redet, von der europäischen Einigung. Man sollten nicht diese abgegriffenen Begriffe verwenden, die nur zu vielen Missverständnissen führen wie dem von den Vereinigten Staaten. Das klingt immer nur nach mehr Europa, nicht nach einem besseren Europa.

STANDARD: Zum Thema "Sprache und Reden über Europa": Warum gelingt es den Kommissaren nicht, den Bürgern Europa mit einfachen Worten zu erklären?

Juncker: Ich habe in europäischen Räten zu einem Zeitpunkt, wenn dort die Debatte der Regierungschefs an Niveau gewann, oft gesagt, ich hätte gerne, dass so geredet wird, dass mein Vater das auch versteht.

STANDARD: Der ein einfacher Stahlarbeiter in Luxemburg war und nicht Europarecht studiert hat.

Juncker: Die einfachen Arbeiter sind Menschen mit einer ausgeprägten natürlichen Intelligenz. Es ist ja nicht so, dass nur Eliten verstehen sollen, was wir tun, sondern auch einfache Menschen, die genauso wichtig sind. Deshalb muss man sich einer einfachen Sprache bedienen.

STANDARD: In einer Passage in Ihrer Rede zur Lage der Union haben Sie auf Ihren Vater Bezug genommen.

Juncker: Der war kurz vorher gestorben.

STANDARD: So wie Ihre Mutter ein Jahr davor. Die Referenz auf Ihren Vater war als politische Botschaft interessant. Sie sagten, Ihr Vater habe an Europa geglaubt, weil er wusste, wie kostbar der Frieden in Europa war, aber auch, wie zerbrechlich. Und Sie sagten, dass Sie an Europa glauben, weil Ihr Vater Ihnen diese Werte vermittelt hat. So deutlich hat noch kein Kommissionspräsident gesagt, dass er auch Krieg für möglich hält. Ist das so?

Juncker: Wir denken, dass zwei Dinge unabdingbar in die Geschichte einbetoniert sind: Das sind der Erhalt der europäischen Werte und der Frieden. Nicht, dass ich den Menschen nicht trauen würde oder den Nationen nicht trauen würde, aber ein Blick in die Geschichte zeigt, dass man vorsichtig sein muss und dass man den Anfängen wehren muss. Ich halte es mit Brecht: "Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch."

STANDARD: Ein Zitat, die abschließende Warnung aus dem Epilog von Bert Brechts Stück "Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui", einer Parabel auf den Aufstieg Adolf Hitlers.

Juncker: Und das sieht man ja auch jetzt überall. Ich kenne kein Land, wo dem nicht so wäre. Da merkt man, dass diese rechtspopulistische Vereinfachungs- und Verführungsmaschine wieder angeworfen wurde. Wenn man europäische Geschichte kennt, weiß man, was daraus entsteht. Und deshalb bin ich der Auffassung, dass man den Anfängen wehren muss, dass man das nicht einfach durchwinken darf, dass das nicht unwidersprochen bleiben darf. Das wäre eine Art der Geschichtslosigkeit aus Bequemlichkeitsgründen, die ich hinzunehmen nicht bereit bin. Ich möchte gegen diese Kräfte auftreten. In dem Maß allerdings, wo auch klassische politische Familien und ganze Regierungen die Populisten nachäffen, um die besseren Vereinfacher zu werden, ist das ein, wie ich finde, hochgefährlicher Trend, der sich langsam, aber sicher in die europäische Landschaft hineinfrisst.

STANDARD: Da sind wir dann natürlich auch beim Brexit, dem EU-Austritt von Großbritannien, der von der nationalpopulistischen Ukip-Partei von Nigel Farage 20 Jahre lang angetrieben wurde, mit Erfolg.

Juncker: Ja, da sind wir bei der Leichtigkeit des öffentlichen Daseins. Was haben wir in Großbritannien erlebt? Ich staune im Übrigen, dass man sagt, das ist die Schuld der EU, Brexit sei ein Warnruf an die Europäer. Das steht überall in den Zeitungen. Aber was ist wirklich passiert? Man hat seit dem Beitritt Großbritanniens vor 40 Jahren den Leuten in Großbritannien immer wieder erklärt, dass man an dieses Projekt Europa nicht glaubt. Man hat 40 Jahre lang erklärt, dass Großbritannien etwas anderes ist als der Kontinent, was ja zum Teil auch stimmt. Aber auch bei den Ländern auf dem Kontinent gibt es viele unterschiedliche Befindlichkeiten, Auffassungen, die nicht zusammenpassen. Auch die sind in der EU-Form zusammenzupressen. Aber wenn alle Parteien den Briten seit 40 Jahren gesagt haben, dass dieses Integrationsprojekt nicht das ist, was sie wollen, dann glauben sie das. Wenn dann auch noch die britische Presse täglich eine richtige Gegenpropaganda macht gegen alles, was europäisch ist, darf man sich nicht wundern, wenn eine Mehrzahl der Menschen denkt: Gehören wir eigentlich zu Europa, oder ist dieses Europa nur zu uns gekommen?

STANDARD: Umgekehrt gibt es auch viele Briten, die entsetzt sind von der Brexit-Entscheidung. Ist es denkbar, dass der EU-Austrittsplan zurückgenommen wird?

Juncker: Ich glaube, man muss sich an dieses Referendumsergebnis halten. Es ist vor allem Sache der Briten, sich in dieser Gemengelage zurechtzufinden. Ich hielte es aber für verfehlt, wenn wir uns von Kommissionsseite her jetzt so verhielten und die Verhandlungen so führten, dass es am Ende des Tages so sein wird, dass die Briten ein zweites Referendum machen.

STANDARD: Ich meinte nicht als Zielsetzung schon heute, aber als Möglichkeit. Sollte sich am Ende der Verhandlungen zeigen, dass die Konsequenz eines EU-Austritts für beide Seiten dramatisch und mit Nachteilen verbunden ist, wäre es dann nicht klug, einen Fehler zu korrigieren und die Briten über den Austrittsvertrag abstimmen zu lassen, so wie man das bei Beitrittsverträgen auch macht?

Juncker: Ich kann diese Frage nicht anstelle der Briten beantworten. Es liegt an der britischen Demokratie, darüber zu befinden, welche Form der Zustimmung oder des passiven Durchwinkens man wählt. Ich habe dazu keine Aussage zu machen, es ist Sache der Briten.

STANDARD: Ist die Tür nicht ganz zugeschlagen?

Juncker: Der Beschluss muss vom Europäischen Rat und vom Parlament getroffen werden. Man soll die Zukunft nicht beleidigen.

Das Büro Junckers im Brüsseler EU-Viertel.
Thomas Mayer/STANDARD

STANDARD: Was bedeutet der Austritt Großbritanniens für den Rest der Union, für die 27 EU-Staaten?

Juncker: Ich glaube, die Briten verstehen ihr Ausscheiden aus der Union inzwischen besser als wir Kontinentaleuropäer. Ich halte das für einen massiven Einschnitt, wenn ein Land willentlich und wissentlich ausscheidet. Das ist doch ein epochaler Einschnitt. Es drängen sich viele Länder an den Pforten der Union und bitten um Einlass, und dann ist da jemand, der schon drin ist, 40 Jahre lang, und der schüttelt einfach alles ab.

STANDARD: Vor allem trifft das die EU-27 sicherheitspolitisch schwer.

Juncker: Die Briten sind ein Volk, das über eine voll funktionierende Armee verfügt, eines von wenigen. Aber das ist nicht so sehr mein Punkt, obwohl mich auch das umtreibt. Europäische Verteidigungspolitik mit den Briten ist ein schwieriges Geschäft, das wird jetzt eher erleichtert durch den Austritt. Aber dass man nach 40 Jahren kein Gefühl für das Gemeinsame entwickelt hat, sich in einem solchen Ausmaß nicht wohlfühlt in der Union, das ist mein Punkt. Die Briten haben sich offensichtlich nicht wohlgefühlt.

STANDARD: Wird die Integration der EU-27 beschleunigt, wenn die Briten ausgetreten sind?

Juncker: Man sitzt diesem Irrglauben sehr oft auf, als wäre es so, dass es Großbritannien gäbe und demgegenüber einen Block von 27 EU-Staaten. Es gibt auch zwischen den 27 doch sehr erhebliche Unterschiede, was die Ausrichtung anlangt, oder den 15 Staaten vor der Erweiterung 2004, oder den zwölf davor, ja sogar zwischen den sechs Gründungsmitgliedern gibt es diese Differenzen. Das wird jetzt ein bisschen verdeckt durch das Brexit-Thema. Aber wenn man genau hinhört, wenn man einen Sinn für aufkeimende Gegensätze hat, dann weiß man, dass dem nicht so ist. Ich zögere deshalb zu sagen, dass man jetzt eine Überprüfung des EU-Vertrags brauchte. Wer jetzt über Vertragsreformen redet, begibt sich in ein absolutes Niemandsland, in ein Labyrinth, wo niemand mehr weiß, wo der Weg hinführt.

STANDARD: Wäre eine große EU-Reform möglich, bevor der Brexit vollzogen ist?

Juncker: Nein, das sowieso nicht. Man muss ja zuerst wissen, was aus dem EU-Austritt Großbritanniens wird und welches Projekt daraus für die anderen entstehen kann. Dann kann man darüber reden. Ich hielte es für völlig verfehlt, sich jetzt in irgendwelchen Fantasien für Vertragsänderungen zu ergehen. Das halte ich nicht für zielführend.

STANDARD: Was ist das persönliche Resümee zur Hälfte der Amtszeit?

Juncker: Ich bin zufrieden mit dem Geleisteten, aber nicht vollkommen glücklich damit, weil trotz allem vieles fehlt, trotz aller richtigen programmatischen Ansätze. Ich bin ein begeisterter Zeitungsleser, ein Leser sowieso, und wenn ich sehe, wie ich beschrieben werde, dann erkenne ich mich eigentlich in den wenigsten Beschreibungen selber. Ich werde da als ein mächtiger Mann in Europa dargestellt. De facto habe ich das Gefühl, ich bin nur ein kleiner Heiliger in einer großen Kirche.

STANDARD: Fühlt man sich auch wie Sisyphus?

Juncker: Nein, Sisyphus hat noch nie einen Stein nach oben gebracht, ich habe schon viele Steine auf den Berg gebracht.

STANDARD: Sind sie auch oben geblieben?

Juncker: Ich tue auch alles, damit sie nicht wieder runterrollen. In Europa kann man alles zurückdrehen, was man auf den Weg gebracht hat. Und es gibt diese Kräfte ja auch, die alles wieder zurückdrehen wollen.

STANDARD: Zurück zum Bild vom kleinen Heiligen in der großen Kirche, da gibt es auch Märtyrer darunter. Viele Leute fragen einen, wie der Jean-Claude Juncker so ist, wie er mit der harten persönlichen Kritik umgeht. Kaum im Amt, hieß es, sie seien der Pate der Steuermafia in Luxemburg gewesen, wechselweise mit Berichten vor allem in der britischen Presse, sie seien ein kettenrauchender Alkoholiker mit angeblichem Nazi-Schwiegervater. Wie steckt man so was weg?

Juncker: Ohne auf diese Berichte einzugehen, denn ich bin es inzwischen leid, darüber zu lesen – ich habe mir einen Modus vivendi zurechtgelegt, der sich aus der Tatsache ergibt, dass ich nicht mehr Karriere machen muss, weil ich – direkt formuliert – eine Karriere gehabt habe und auch noch immer habe. Das heißt, ich sage eigentlich immer, was ich mir denke, bei aller Rücksichtnahme auf andere Kommissare, auf Regierungen, auf nationale Extras, die man als Kommission beachten muss. Ich bin kein Staatsschauspieler, sondern genau das Gegenteil davon.

STANDARD: Was hin und wieder zu amüsanten Begrüßungsritualen bei EU-Gipfeln führt.

Juncker: Mir wird ja auch oft vorgeworfen, dass ich mich protokollarisch nicht so benehme, wie man sich korrekt benehmen sollte. Ich bin so, wie ich bin. Ich habe keine Lust, anders zu erscheinen, als ich bin. Das ist manchmal ein Vorteil, manchmal ein Nachteil. Ich mag andere Menschen, viele liebe ich. Mit denen erlaube ich mir, hemdsärmelig und freundschaftlich umzugehen, ohne zum Beispiel mit Journalisten in Kumpanei zu verfallen. Kumpanei darf es zwischen Journalisten und Politikern nicht geben. Aber wenn ich Menschen mag, dann zeige ich ihnen das. Wenn ich Menschen nicht mag, dann zeige ich es ihnen nicht, aber sie dürfen auch nie in Gefahr geraten zu denken, dass ich sie mag.

STANDARD: Und die persönlichen Angriffe und Untergriffe, die gehen Ihnen nahe?

Juncker: Da gibt es einiges, was einem nahegeht, wenn man fundamental falsch beschrieben wird. Man kann ja nicht auf jede falsche Beschreibung mit einem Korrektiv reagieren. Wenn die Attacken so übertrieben sind, dass sie bedeutungslos werden, wie das in der britischen Presse lange Zeit der Fall war, dann sage ich mir mit Lichtenberg: "Über Euren Kleinkram lach ich Philosoph aus heiterer Höhe."

STANDARD: Was möchten Sie in der zweiten Halbzeit der Amtsperiode bis Mitte 2019 erreichen?

Juncker: Wir müssen darauf achten, dass wir uns nicht von unserer programmatischen Linie entgleisen lassen. Wir haben zu Beginn unseres Mandats zehn Prioritäten festgelegt, an denen halte ich fest. Sie sind in unseren Arbeits- und Umsetzungsprogrammen. Bis jetzt hat mir noch niemand eine Priorität nennen können, die nicht abgedeckt wäre durch das, was ich gesagt habe. Heute redet jeder über Migration, das haben wir 2014 gemacht. Oder ein anderes Beispiel, plötzlich reden jetzt alle wieder über europäische Verteidigungspolitik, das steht in meinem Programm, die Energieunion, die Digitalunion. Ich bin in einem Umsetzungsmodus. Die Aufgabe der Kommission wäre relativ einfach, wenn auch die anderen sich so intensiv mit der europäischen Wirklichkeit beschäftigen würden, wie wir das tun. Und weil wir von Werten geredet haben: Alle entdecken ja das Wort Weltanschauung wieder und schauen sich die Welt nicht an. Eine Weltanschauung kriegt man nur, wenn man sich die Welt anschaut. Das tun nicht alle. Die Kommission ist dazu da, die Probleme anzuschauen, solange sie klein sind. Wenn die kleinen Probleme zu wachsen beginnen, sind sie als große Probleme kaum mehr zu bewältigen.

STANDARD: Als Kommissionspräsident sind Sie vermutlich einer der bestinformierten Politiker in der Welt, weil sich in der Kommission viele Informationen bündeln, weil Sie viel in der Welt herumkommen. Wie würden Sie 500 Millionen EU-Bürgern die Lage und die Zukunftsaussichten beschreiben, in einfachen Worten, mit wenigen Sätzen?

Juncker: Ich würde sagen, die Welt und ihre Zukunft ist für die Europäer voller Chancen. Aber sie ist auch komplizierter, als sie es jemals war. Und sie ist auch viel gefährlicher geworden. Die Geschichte war immer tragisch und das Weltgeschehen gefährlich. Aber wir müssen heute sehen, dass es für die Europäer gefährlicher geworden ist. Der Krieg ist an unsere Grenzen gerückt. Ich glaube, viele Luxemburger oder Österreicher wissen gar nicht, dass Syrien ein Nachbarland der Europäischen Union ist. Zypern liegt fast in Sichtweite zu Syrien, die Ukraine liegt in Europa. Das Spannungsfeld von Krieg und Frieden, als das Europa oft beschrieben wurde, das hat uns wieder ereilt. Ich weiß nicht, wo die Grenze liegt, wann das auf uns überschwappen könnte. Aber man merkt ja schon am islamistischen Terror, dass kriegerische Auseinandersetzungen wieder in Europa stattfinden können.

STANDARD: Und ökonomisch?

Juncker: Schließlich würde ich den Europäern sagen wollen, dass sie sich Folgendes überlegen müssen: Am Anfang des 20. Jahrhunderts machten die Europäer 20 Prozent der Weltbevölkerung aus, am Ende dieses Jahrhunderts werden es nur mehr als vier Prozent sein, 400 Millionen Europäer unter zehn Milliarden Menschen auf der Welt. Unser relativer Anteil an der globalen Wertschöpfung wird von 25 Prozent auf unter 15 Prozent abstürzen. Und wir sind der kleinste Kontinent, obwohl wir von uns glauben, wir seien die Herren der Welt. Dann sage ich den jungen Menschen, schaut mal 40 Jahre nach vorne, es wird dann weniger Europäer geben, die ihre Grundordnung, ihre Wertordnung auch offensiv verteidigen, und Europäer, die wirtschaftlich einfach schwächer geworden sind. Politik ist auch die Schnittmenge zwischen Demografie und Geografie, gemischt mit einer guten Dosis Geschichte. Zur erlebten Geschichte Europas gehört die Geschichte der Generation meiner Eltern. Das können die nachfolgenden Generationen überhaupt nicht mehr begreifen. Sie haben nicht einmal mehr einen Urgroßvater, der noch vom Krieg erzählen kann. Deshalb, finde ich, ist es die Aufgabe meiner Generation, die eine Zwischengeneration ist, dafür zu sorgen, dass das Wichtige nicht aus der Betrachtung vergangener und zukünftiger Wirklichkeit verschwindet. (Thomas Mayer, 31.10.2016)