Seit 1991 steht auf dem Prager Letná-Plateau die "Zeitmaschine".

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Von 1955 bis 1962 blickte ein riesiger Stalin aus Granit auf Prag herab.

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Über das Steinfundament, auf dem einst ein gewaltiger Stalin-Koloss aus Granit stand, flitzen unermüdlich junge Prager auf ihren Skateboards. Unten, am Fuße des Letná-Hügels, fließt die Moldau vorbei, dahinter glänzen die Dächer der Altstadt in der Abendsonne. Manchmal tönt die Sirene eines Ausflugsschiffes herauf, schneidet ins ferne Rauschen des Verkehrs, ins holprige Rattern der Rollbretter – und ins regelmäßige Surren des Elektromotors, der hier oben die Prager Zeitmaschine antreibt.

Die bewegliche Skulptur von Vratislav Karel Novák steht seit Mai 1991 auf dem Letná-Plateau, gut sichtbar von vielen Punkten der Stadt. Für die pragmatischen Prager ist der Name "Zeitmaschine" wohl etwas zu dick aufgetragen, sie sagen lieber einfach "Metronom". Ein 25 Meter langes rotes Pendel bewegt sich im Winkel von 60 Grad hin und her, Tag und Nacht, und erinnert so an den Lauf der Zeit – und an die Vergänglichkeit der Macht.

Bewegung versus Stillstand

Eigentlich nur als vorübergehende Installation errichtet, hat sich die Zeitmaschine längst als Dominante im Prager Stadtbild etabliert. Dadurch unterscheidet sie sich wesentlich von der gigantischen Skulptur, die an derselben Stelle einst für die Ewigkeit erbaut wurde – und 1962, nur sieben Jahre nach ihrer Einweihung, wieder verschwand. Das größte Stalin-Denkmal der Welt, fertiggestellt nur kurz bevor der sowjetische KP-Chef Nikita Chruschtschow die Entstalinisierung einleitete und dem Personenkult um seinen Vorgänger Josef Stalin eine Absage erteilte, war von Anfang an aus der Zeit gefallen.

Die unglückselige Geschichte des Denkmals, das revolutionär sein sollte und doch nur Stillstand symbolisierte, begann bald nach der kommunistischen Machtübernahme im Jahr 1948. Ein Zeichen der Dankbarkeit für die Befreiung Prags von der Nazi-Herrschaft durch die Rote Armee sollte es sein, aber auch ein Symbol für die künftige weltpolitische Orientierung der Tschechoslowakei: "Mit der Sowjetunion bis in ewige Zeiten" lautete das Motto der neuen Machthaber.

Verankerung in der Vergangenheit

1949 wird ein Wettbewerb ausgeschrieben. Sich daran nicht zu beteiligen, ist für namhafte Bildhauer kaum eine Option. Die Auswahlkommission, bestehend aus acht Ministern plus Regierungschef, entscheidet sich schließlich für den Entwurf des Bildhauers Otakar Švec: Stalin an der Spitze einer Figurengruppe, links und rechts dahinter Vertreter des sowjetischen und tschechoslowakischen Volks: Arbeiter, Wissenschafter, Bäuerinnen, Soldaten. Nie hat Švec damit gerechnet, tatsächlich zum Zug zu kommen, und wie viele seiner Kollegen hätte er mit der Sache lieber gar nichts zu tun. Von nun an aber steht sein Leben im Schatten Stalins.

Noch im selben Jahr werden 23 Grundsteine gelegt, herbeigekarrt aus dem ganzen Land. Sie sollen den Generalissimus fest im Boden der Vergangenheit verankern: Ein Stein aus dem Fundament des Altstädter Rathauses ist dabei, ein Stück Basalt aus dem von Volksmythen umrankten Berg Říp, ja sogar ein Teil aus der Basilika der Slawenapostel Kyrill und Method im mährischen Velehrad.

Enormer politischer Druck

Der Rest sind 17.000 Tonnen Stahlbeton und Granit. Die Arbeiten gehen nur schleppend voran. Als Stalin 1953 stirbt, ist Švec von der Fertigstellung seines Denkmals noch weit entfernt. Er steht unter ständiger Beobachtung, Zweifel aller Art kommen auf: Macht der mehr als 15 Meter hohe Stalin auf dem fast ebenso hohen Sockel keinen allzu despotischen Eindruck? Sollte er andererseits nicht doch etwas größer sein, um sich besser vom Volk dahinter abzuheben? Und greift die Partisanin dem neben ihr stehenden Soldaten nicht auf den Hosenschlitz?

Švec' Ehefrau Vlasta hält dem Druck nicht stand und begeht 1954 Selbstmord. Ein Jahr später, kurz vor der Einweihung des Denkmals am 1. Mai 1955, folgt ihr Otakar Švec freiwillig in den Tod. Sein Schicksal wird geheim gehalten: Als Urheber des Denkmals gilt fortan "das tschechoslowakische Volk". Dieses hat für die größte Figurengruppe Europas längst einen Spitznamen parat: Frei übersetzt lautet er "Warteschlange vor dem Fleischgeschäft", eine unverhohlene Anspielung auf die kommunistische Mangelwirtschaft.

Sprengung "mit Würde"

Die Geschichte der Beseitigung des Kolosses ist kaum weniger vertrackt: 1962 wird der Prager Regierung klar, dass Moskau die Huldigung an den Exdiktator nicht mehr toleriert. Stalin soll gesprengt werden – aber "mit Würde" und abgeschirmt von der Öffentlichkeit. Angesichts der Monstrosität des Denkmals ein schier unmögliches Unterfangen. Die Arbeiten ziehen sich über Wochen hin, im November 1962 ist der Koloss dann endlich verschwunden. Ein Großteil des Schutts landet in einem toten Arm der Moldau.

Erster Rockklub Prags

Wenn es dunkel wird, verstummen allmählich die Skateboards. Verliebte Paare und Gruppen junger Leute genießen jetzt den Ausblick auf ihr nächtliches Prag. Seit der Wende des Jahres 1989 gehört dieser Ort der Jugend. Im Inneren des Stalin-Fundaments entstand damals der erste Prager Rockklub, auch das erste Piratenradio sendete von hier. Es ist ein guter Platz für die surrende Zeitmaschine, das Metronom der Vergänglichkeit. 2003 kam sie zu politischen Ehren, als sie vor dem Referendum über den EU-Beitritt Tschechiens weithin sichtbar zwischen Ja und Nein pendeln durfte. 77 Prozent sagten schließlich Ja.

Frei von Pannen ist freilich auch die Zeitmaschine nicht. Manchmal steht sie sogar still – vortrefflicher Gesprächsstoff für jene Prager, die sich leidenschaftlich über so manchen Stillstand in der Politik von heute ärgern. (Gerald Schubert aus Prag, 29.10.2016)