Christoph Boschan leitet die Geschicke der Wiener Börse seit 1. Juni. Der gebürtige Deutsche wechselte von Stuttgart nach Wien.

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STANDARD: Dem heimischen Kapitalmarkt wird oft nachgesagt, er befinde sich im Dornröschenschlaf. Sind Sie der Prinz, der den Markt nun wachküsst?

Boschan: Die Österreicher sind bezüglich ihres Börsenplatzes sehr selbstkritisch. Der Wiener Markt ist weitgehend im Gleichgewicht mit dem europäischen Gesamtbild. Was man schon sagen muss, ist, dass die Marktkapitalisierung im Verhältnis zum BIP nur halb so groß ist wie in anderen entwickelten Ökonomien. Das zeigt, welches Potenzial noch vor uns liegt. Übersehen wird, dass der Bondmarkt sehr gut läuft. Heuer haben wir bereits 30 neue Anleihen mit einem Gesamtvolumen von drei Milliarden Euro. Ich bin nicht der Prinz, ich bin der, der die Funktionen des Börsenhandels verantwortet. Wir müssen bekanntmachen, was die Börse leistet. Aber sie ist keine Zwangsbeglückungseinrichtung für Betriebe.

STANDARD: Wie wollen Sie das Potenzial heben? Der Kurszettel wird tendenziell ja kleiner: Stichwort Miba oder RHI.

Boschan: Die derzeitige Niedrigzinsphase schreit halt auch nicht nach Eigenkapital. Hier muss man die österreichischen Banken auch mal loben. Man hat immer dort unterentwickelte Eigenkapitalmärkte, wo die Versorgung mit Fremdkapital gut funktioniert.

STANDARD: Aber Fremdkapital ist ja nur eine Variante ...

Boschan: In der Kette der Unternehmensfinanzierung gibt es viele Möglichkeiten. Die Politik kümmert sich derzeit extrem um die Gründungsphase mit Crowdfunding-Initiativen, steuerlichen Förderungen und administrativen Erleichterungen. Ich leite daraus aber auch die Frage ab: Wie ist das Zielbild? Sind die Aktiengesellschaft und das börsennotierte Unternehmen noch das Leitbild? Da vermisse ich Antworten von der Politik, denn jeder zehnte Arbeitsplatz hängt von börsennotierten Unternehmen ab. Wir haben auch nachzudenken, welchen Beitrag die Börse in verschiedenen Stufen der Finanzierung leisten kann.

STANDARD: Wie holt man die Kleinanleger von ihren Sparbüchern ab?

Boschan: Wir müssen schauen, dass wir vor allem die niedrigen Einkommensschichten an der Wohlfahrt, die am Kapitalmarkt produziert wird, teilhaben lassen. Die ATX-Unternehmen haben heuer zwei Milliarden Euro an Dividende ausgeschüttet – aber nur an diejenigen, die auch Aktien haben. Seit 1991 hat der ATX eine durchschnittliche Rendite von sechs Prozent gemacht – und das trotz diverser Krisen.

STANDARD: Die Politik hat zuletzt die Kapitalertragsteuer auf Kursgewinne aber erhöht.

Boschan: Das halte ich für ein politisch fatales Signal. Damit wird deutlich, was der Staat fördern möchte und was nicht. Mein Vorschlag hier ist, dass die niedrigen Lohnsteuerklassen von der Kapitalertragsteuer befreit werden, wenn sie langfristig investieren wollen – also Papiere länger als ein Jahr halten.

STANDARD: Wie weit ist dieser Vorschlag in der Politik angekommen?

Boschan: Ich habe bisherige Gespräche mit politischen Entscheidungsträgern als sehr offen empfunden.

STANDARD: Sie haben angekündigt, geschäftlich künftig mehr auf den Westen fokussieren zu wollen ...

Boschan: Mit den Börsen im Osten haben wir eine gute Geschäftsbasis aufgebaut. Schaut man aber, wer die Kunden der Wiener Börse sind, so kommen diese zumeist aus Großbritannien und den USA. Daher muss man sich auch mehr um diese Märkte kümmern.

STANDARD: Aber die Briten wollen raus aus der EU. Was erwarten Sie diesbezüglich für die Börse?

Boschan: Für den österreichischen Anleger bringt der Brexit etwas Fatales mit sich, nämlich dann, wenn heimische Emittenten nach London wechseln. Dann kommt ein Währungsrisiko hinzu und Gebühren für Auslandsorder.

STANDARD: Könnte Wien als Börsenplatz im Herzen Europas vom Brexit nicht auch profitieren?

Boschan: Wien wäre prädestiniert dafür. Es sitzen viele internationale Organisationen hier. Britische Unternehmen können nach dem Brexit nicht mehr auf den EU-Pass setzen, mit dem man mit einer Zulassung für ein Produkt in der gesamten EU handlungsfähig ist. Also müssen sich die Unternehmen einen neuen Standort in der EU suchen. Hier geht es um einen Aufsichtswettbewerb: Wo finde ich den besten Zugang zu einer internationalen, effizienten und pragmatischen Aufsicht? Ob das in Wien der Fall ist, kann ich noch nicht beurteilen.

STANDARD: Die Kosten an der Wiener Börse stehen oft in der Kritik. Wird man auch an dieser Schraube drehen, um als Standort attraktiver zu werden?

Boschan: Hier muss man mit einem großen Vorurteil aufräumen. Die Wiener Börse ist im Vergleich mit ihren direkten Wettbewerbern mitnichten die teuerste. Dreiviertel der Umsätze im ATX finden hier statt – das findet man nirgendwo in Europa. Im Vergleich zur Gesamtleistung, vor allem gemessen am Spread, ist die Wiener Börse am günstigsten.

STANDARD: Denkt die Börse selbst an einen Börsengang, um ein Zeichen zu setzten?

Boschan: Die Börse denkt jetzt zunächst einmal an die Entwicklung ihres Geschäfts. (Bettina Pfluger, 28.10.2016)