In den vergangenen Tagen, Wochen und Monaten sind auf allen Ebenen der Union und der Mitgliedstaaten viel Zeit und Mühe draufgegangen, den umstrittenen Freihandelspakt der EU mit Kanada in trockene Tücher zu bringen. Zwischendurch wurde Ceta von seinen Gegnern schon mehrfach für "tot" erklärt. Aber immer wieder folgte die wundersame Auferstehung, ohne dass die Befürworter den Bürgern genau erklärt hätten, warum das Ganze für sie so wichtig sei.

Zuletzt war dieses Phänomen in den Niederungen der Provinzpolitik Belgiens zu sehen, wo es mehr um partei- und wahltaktische Überlegungen ging als um den Inhalt eines komplexen Vertrages. Die wallonischen Sozialisten, die zu Hause von globalisierungskritischen Grünen und Linkspartei bedrängt werden, wollten ihrerseits die liberal-konservative Zentralregierung in Brüssel in Bedrängnis bringen. In eineinhalb Jahren gibt es in Belgien Wahlen. Diese Aussicht war einer der Haupttreiber des jüngsten Konflikts.

Was das für die Zukunft der EU bedeutet, wie man damit umgeht, dass (in zunehmendem Maße) nicht nur ganze EU-Staaten in Brüssel Blockadepolitik betreiben, sondern nun auch schon kleinere Regionen, das ist ein ganz eigenes Kapitel. Über dieses Problem der Handlungsunfähigkeit müssen die Europäer eine separate Debatte starten – ganz unabhängig von globalen Handelsabkommen.

Aber zum eigentlichen Anlass zurück: Tatsächlich spricht nach dem innerbelgischen Kompromiss einiges dafür, dass das Ceta-Abkommen wie geplant ins Ziel kommt. Die Absage des EU-Kanada-Gipfels ist für die Europäer vom Image her peinlich. Sie haben den Partnern in der Welt gezeigt, dass sie Vereinbarungen und Termine nicht einhalten können. Das wussten die schon. Und es ging am Ende letztlich eher um Verfahrensfragen, die schon US-Präsident Barack Obama mehrfach zum Staunen gebracht haben: In Europa sei "alles sehr kompliziert, und es gibt viele Präsidenten", sagte er einmal bei einem G20-Treffen in Frankreich.

Das ist genau das richtige Stichwort für das, was auf die Bürger und die Regierungen in der EU in den kommenden Monaten in Zusammenhang mit Ceta (und mit anderen EU-Handelsabkommen wie mit Singapur oder später den USA, mit Japan) zukommen wird – die Sache bleibt kompliziert und anspruchsvoll, und es sind dabei die inhaltlich wichtigsten Fragen erst noch zu beantworten: Wie will die EU überhaupt Handel treiben, ihren Wohlstand halten?

Denn Ceta wird nur "provisorisch" angewendet, realiter auch nur in jenen Bereichen des Handels, die juristisch und gesellschaftlich weitgehend unbestritten sind (Abschaffung weiterer Zölle, von Tarifen). Wie man aber im wahrsten Sinn moderne Handelserleichterungen umsetzt, indem man auch Sozial- und Umweltregelungen beim Handeln einbezieht, oder wie man Streitigkeiten zwischen Investoren und Staaten löst, ohne auf die alten Methoden der außergerichtlichen Schiedsgerichte zuzugreifen, all das muss erst erarbeitet werden.

Ceta ist dafür eine Art "Versuchsvertrag": ein Pakt der EU mit dem ihr sehr ähnlichen Land Kanada, der erst noch mit Leben erfüllt werden muss. Er wird noch lange nicht voll gelten, weil er von den Parlamenten in den Nationalstaaten erst noch ratifiziert, weiterentwickelt werden muss. Dieser Aspekt ist bisher viel zu sehr untergegangen. Die wirkliche substanzielle Debatte zu Ceta steht uns erst bevor. (Thomas Mayer, 27.10.2016)