Der Soziologe Stefan Hirschauer stellt Kategorien der sozialen Zugehörigkeit infrage.

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STANDARD: Die Mainzer Forschergruppe "Un/doing Differences", deren Sprecher Sie sind, untersucht Formen der Kategorisierungen von Menschen, also wie wir Menschen einteilen und unterscheiden. Wozu braucht es diese Kategorien?

Stefan Hirschauer: Die allgemeine Antwort darauf ist: Kategorien bieten Komplexitätsreduktion, sie vereinfachen die Welt, sie sorgen für Ordnung. Eine Welt ohne Differenzierungen ist undenkbar.

STANDARD: Das Einteilen in Kategorien kann aber auch problematisch sein – etwa wenn rassistische oder sexistische Stereotype daraus entstehen. Welche aktuellen Entwicklungen wirken auf das Bedürfnis nach Vereinfachung und fördern damit Rassismus oder Sexismus?

Hirschauer: Gründe für nationalistische Haltungen, wie wir sie im Moment in Europa erleben, sind Abstraktheitsüberforderungen. In einem Rechtsstaat, in dem Egalität in vielerlei Hinsicht durchgesetzt ist, werden wir angehalten, von alten Differenzierungen abzusehen. Die Lehrer sollen auf nichts anderes als auf Leistung achten. Die Richter sollen auf nichts anderes als auf die Schuld von Taten achten. Die Arbeitgeber sind rechtlich dazu verpflichtet, nur auf Qualifikation zu achten. Es darf sofort zum Skandal gemacht werden, wenn diese Vorgaben missachtet werden. Diese Situation macht aber manchen Menschen Probleme.

STANDARD: Warum?

Hirschauer: Zum Beispiel jenen, die ökonomisch bedrängt sind. Nehmen Sie die Anhänger von Donald Trump: Viele von ihnen sind Globalisierungsverlierer, und manche haben nicht viel mehr, als stolz darauf zu sein, dass sie Männer sind. Sie forcieren wieder die Geschlechterunterscheidung. Darauf zielen die sexistischen Sprüche des republikanischen Präsidentschaftskandidaten ab. Der vordergründige Sexismus oder auch Rassismus wird also von gesellschaftlichen Bedingungen angeschoben, die gar nicht so viel zu tun haben mit Ethnizität, Geschlecht und "Rasse". Hier wirken Ventilmechanismen.

STANDARD: Angenommen, wir würden in einer gleichberechtigten Welt leben, in der alle Menschen unabhängig von ihrem Geschlecht, ihrer Sexualität, ihrer Herkunft dieselben Rechte und Freiheiten hätten – wären dann diese Unterscheidungskategorien obsolet?

Hirschauer: Obsolet würde ich nicht sagen, aber sie wären sicherlich entschärft. Die Rückfälle auf kategoriale Vereinfachungen der Welt würden unter solchen Bedingungen seltener und unwahrscheinlicher werden. Sie würden aber trotzdem stattfinden, weil die allgemeine Ordnungsfunktion bestehen bleibt.

STANDARD: Differenzierungen passieren nicht im hierarchiefreien Raum. Bringen Sie immer auch einen gesellschaftlichen Status zum Ausdruck?

Hirschauer: Es ist nicht immer Hierarchie beteiligt, aber sie kann ins Spiel gebracht werden. Der krasseste Fall ist die Unterscheidung in "Rassen". Die Bezeichnung "Rasse" ist im Deutschen wegen des Holocaust verpönt. Uns fehlt aber dadurch auch die im Amerikanischen verfügbare Unterscheidung von "race" und Ethnizität. Das ist nicht dasselbe. "Race" ist nahe an der Tier-Mensch-Unterscheidung gebaut. Hier gibt es eine gravierende Abwertung des Anderen, das heißt in Europa gegenüber allen Dunkelhäutigen. Bei der Geschlechterdifferenz ist das anders gelagert. Grundsätzlich haben wir einen patriarchalen Hintergrund in der europäischen Geschichte, aber die exzessive ästhetische und moralische Idealisierung von Frauen findet sich bei der Rassenunterscheidung so überhaupt nicht.

STANDARD: Sie erforschen auch, wie sich Kategorien im jeweiligen historischen Kontext verändern. Was ist Ihnen dabei aufgefallen?

Hirschauer: Im Lauf der Geschichte wurden Nationalitäten in Europa abgewertet. Mit der Säkularisierung wurde wiederum die Bedeutung der Religion abgeschwächt. Aber es gibt auch Konjunkturen im Tagesablauf, also was in welcher Situation für uns relevant ist. Oder in der Biografie eines Menschen: welche Zugehörigkeit in welchem Lebensabschnitt viel oder wenig zählt.

STANDARD: Wie stehen denn die Kategorien Nation und Religion zueinander?

Hirschauer: Nationalitäten bestehen grundsätzlich nebeneinander: etwa die Österreicher und die Deutschen. In Konfliktsituationen allerdings werden "wir" uns als besser stilisieren als "die Anderen". Diese im Prinzip symmetrischen Differenzen können immer auch hierarchisiert werden. Religionen existieren im Prinzip auch nebeneinander. Aber wenn es konflikthaft wird, dann werden die Andersgläubigen erst zu Ungläubigen, dann zu Unmenschen gemacht. Im Extremfall schlachtet man sich gegenseitig ab. Selbst innerhalb von Weltreligionen, wie im Europa des 17. Jahrhunderts Katholiken und Protestanten und aktuell Sunniten und Schiiten.

STANDARD: Wie sieht das bei der Geschlechterordnung aus?

Hirschauer: Die Geschlechterordnung der bürgerlichen Gesellschaft löst sich seit einem halben Jahrhundert auf. Die Frauen sind heute die Gebildeteren, wenn sie die Schulen verlassen. Auf den Arbeitsmärkten haben sie Bereiche erobert, die vor hundert Jahren unerreichbar waren. Medizinische und juristische Berufe werden in absehbarer Zeit von Frauen dominiert sein, auch in Paarbeziehungen ist – bei aller kulturellen Trägheit – viel in Bewegung.

STANDARD: Welche gegenläufigen Phänomene gibt es?

Hirschauer: Es gibt Prozesse des "re-gendering" etwa in der Zelebrierung von Geschlecht in den Massenmedien, in der Vergeschlechtlichung von Kinderspielzeug oder im sogenannten Gender-Prizing: dass Frauen für Kosmetik oder Haarschnitte mehr Geld bezahlen als Männer. Auch im Sport ist Gender wahnsinnig hartnäckig, wie auch auf den Beziehungsmärkten. Die allermeisten Menschen machen immer noch Geschlechtsunterschiede bei der Partnerwahl, obwohl diese Unterscheidung immer weniger begründbar ist.

STANDARD: Wenn die Kategorie Gender an Bedeutung verliert, kann es dann neben männlich und weiblich auch eine dritte Option geben, für die sich intersexuelle Menschen einsetzen?

Hirschauer: Es ist paradox. In dem Maße, in dem die Geschlechterunterscheidung an Wirksamkeit verliert, werden einerseits Bedürfnisse wach, weitere Geschlechtskategorien aufzumachen. Andererseits: In dem Maße, in dem solche Bedürfnisse da sind und Menschen sagen: "Ich passe weder in die eine noch in die andere Schublade", können wir erkennen, dass Geschlecht sehr wohl noch eine Bedeutung hat. Es gäbe keine Bedürfnisse nach Geschlechtswechsel, wenn Geschlecht nicht noch eine Rolle spielte.

STANDARD: Ihr kultursoziologischer Ansatz von "Doing and Undoing Differences" impliziert, dass man Differenzierungen auch deaktivieren oder unterlaufen kann. Ist das eine Form des Widerstands?

Hirschauer: Der Widerstand ist sozusagen die offenkundigste Form des "Undoing". Dass in einer Aufsichtsratssitzung die einzige Aufsichtsrätin vom Vorsitzenden gefragt wird: "Was sagen Sie als Frau dazu?" Und die Antwort ist: "Was hat mein Frausein hiermit zu tun?" Das weist eine Kategorisierung zurück. Aber wichtiger sind unauffälligere Formen des "Undoing", die längst zu unserem zivilisierten Umgang miteinander gehören. Es ist ein weithin eingeübtes Verhaltensmuster, dass wir in der Lage sind, von äußeren Merkmalen anderer abzusehen und mit ihnen als Passanten, Dienstleistern, Bekannten oder Freunden umzugehen, egal ob sie im Rollstuhl sitzen oder Narben im Gesicht haben.

STANDARD: In den vergangenen Jahren wurde viel über Diversität und Diversitätsmanagement gesprochen. Was meinen die Begriffe eigentlich?

Hirschauer: Unter dem Titel der Diversität wird vor allem in Unternehmen versucht, das verwertbare Humankapital zu erweitern. Unternehmen haben entdeckt, dass es in den Chefetagen und dort, wo Personalentscheidungen getroffen werden, kulturelle Widerstände gegen die Einstellung von Frauen, Dunkelhäutigen oder Migranten gibt. Diese kulturellen Widerstände kosten das Unternehmen aber Geld, weil ihnen dadurch leistungsstarke Arbeitskräfte entgehen. Hier ist der Kapitalismus der große Freund vieler diskriminierter Menschen – auch der Frauen. Geschlecht ist für Unternehmen eigentlich kein Problem, Kinder hingegen schon. Arbeitsorganisationen sind kinderfeindlich, nicht frauenfeindlich. (Christine Tragler, 28.10.2016)