Wien – Dass Richterinnen und Richter die Exekutive bei einer Urteilsbegründung regelrecht abwatschen, kommt am Straflandesgericht Wien eher selten vor. Praktisch unglaublich wird es, wenn die strengen Worte von Andreas Hautz kommen, der als Richter für gewöhnlich entspannt und locker verhandelt. Im Verfahren gegen fünf unbescholtene junge Männer, denen Widerstand gegen die Staatsgewalt und schwere Körperverletzung an Beamten vorgeworfen wird, kommt es dazu.

Aber der Reihe nach. Der Prozess dreht sich um einen Vorfall nach der Demonstration gegen den Akademikerball. Auf der Mariahilfer Straße sollen Kriminalbeamte von einem Pulk des "Schwarzen Blocks" enttarnt und angegriffen worden sein. Am Ende gab es mehrere verletzte Polizisten, und die fünf Angeklagten waren in Polizeihaft.

Angeblich beim "Schwarzen Block"

Die erste Seltsamkeit: Der Fünftangeklagte ist ein anerkannter Flüchtling aus Tschetschenien, der kein Deutsch spricht. Wie er zum "Schwarzen Block" gekommen sein soll, bleibt völlig unklar. Auch seine Mitangeklagten sehen definitiv nicht wie gewaltbereite Linke oder Anarchisten aus. Zwei tragen Anzüge, einer sogar mit Stecktuch.

Es steht Aussage gegen Aussage: Die Angeklagten sagen, sie seien plötzlich von schwarz gekleideten Männern attackiert worden, der Viertangeklagte gibt sogar zu, einem davon einen Faustschlag versetzt zu haben, aber an einen Hooligan oder Rechten gedacht zu haben.

Die Darstellung der Polizisten ist komplett anders. Fünf Kriminalbeamte seien in einem Café gesessen, draußen hätten sich Schwarzgekleidete zusammengerottet. Sie hätten sich enttarnt gefühlt und Verstärkung angefordert.

Nur ein Pfefferspray gefunden

Dann soll es auf der Straße zu Tumulten gekommen sein: Das gute Dutzend Zivilisten hätte Faustschläge und Tritte ausgeteilt und Pfefferspray eingesetzt. Die zweite Seltsamkeit: Nur das Quintett wurde erwischt, nur bei einem von ihnen ein Pfefferspray entdeckt– und genau dieser Angeklagte wird von keinem der Polizisten belastet. Während zwei andere definitiv als Angreifer identifiziert werden – bei denen wurde aber nichts gefunden, auch auf der Straße blieben keine zurück.

Die dritte Seltsamkeit: Laut Darstellung der Beamten muss es auf der nächtlichen Mariahilfer Straße vor "Polizei, Polizei!"-Rufen gegellt haben. Keiner von drei völlig unbeteiligten Zeugen hat etwas davon gehört.

Eine der Unbeteiligten will aber etwas gesehen haben. "Ich bin mit meinem Mann vom Theater nach Hause gegangen. Unten habe ich uniformierte Polizisten gesehen. Weiter oben ist dann ein junger Mann gestanden. Plötzlich sind auf den drei schwarze und aggressive Gestalten zugelaufen und haben ihn zu Boden gerissen."

Von Polizisten weggerissen

Sie rief in Richtung der Uniformierten, als sie sich zu dem Mann hinunterbeugte, sei sie weggerissen und zur Seite gestoßen worden. Hautz deckt die nächste Seltsamkeit auf: "Haben Sie sich später bei der Polizei gemeldet?", fragt er. "Nein, ich wurde angerufen."

In einem Amtsvermerk steht allerdings, dass sie sich gemeldet habe – und dass sie die Aussage eines Polizisten zum Festgenommenen, "Ich kann mit dir auch in den Wald fahren und dir die Arme wie Zündhölzer brechen", ausschließen könne. Die Zeugin beteuert, sie habe gesagt, es könnte gewesen sein, sie habe das aber nicht unmittelbar gehört.

Überhaupt, die Amtsvermerke. Die sind die fünfte Seltsamkeit in diesem Verfahren: Denn alle beteiligten Polizisten haben jenen Vermerk, der unmittelbar nach dem Einsatz verfasst worden ist, gemeinsam geschrieben.

Seltsamkeiten rund um Amtsvermerke

Ein Kriminalbeamter schwört vor Gericht, er sei damals nur mit seiner Pistole bewaffnet gewesen. "Haben Sie den Amtsvermerk gelesen, bevor Sie ihn unterschrieben haben?", will einer der Verteidiger wissen. "Ja, natürlich." – "Da steht aber drinnen, dass Sie auch ein Pfefferspray und einen Taser hatten." – "Das ist ein Standardsatz", lautet die verblüffende Antwort.

Die sechste Seltsamkeit: Die später zu dem Vorfall gefahrenen Kriminalbeamten hatten über Funk gehört, ihre Kollegen würden bedroht. Ein Blaulicht setzte allerdings keiner ein. "Warum nicht?", will Hautz von einem Polizisten wissen. "Damit wir uns unauffällig verhalten, wir sollten nur beobachten." – "Was könnte es schaden?", wundert sich Hautz. "Ich bin nicht gefahren", hört er als lapidare Antwort.

Insgesamt wollen die durch Pfefferspray und und Schläge verletzten Polizisten, die bis zu 18 Tage im Krankenstand gewesen sind, mehrere tausend Euro Schmerzensgeld. Die müssen sie sich wohl über den Zivilrechtsweg holen: Hautz spricht vier Angeklagte frei, jener, der Schläge gestand, bekommt eine Diversion mit 100 Stunden Sozialarbeit. Nichts davon ist rechtskräftig.

Kein Willkürakt der Polizei

In seiner Begründung teilt der Richter dann die verbalen Ohrfeigen aus. Zwar glaubt er nicht, dass die Polizisten willkürlich auf die Angeklagten losgegangen seien. "Es kann eine unglückliche Fehldeutung gewesen sein."

Aber: "So wie sich der Amtsvermerk liest, war es ein Tumult, der zwei bis drei Minuten gedauert hat. Und trotzdem will jeder Polizist detaillierte Beobachtungen gemacht haben. Die sich dann auch widersprechen – einmal sollen die Angeklagten vermummt gewesen sein, dann wieder eindeutig identifizierbar." Hautz habe "überhaupt ein Problem mit dem Amtsvermerk: Dass der von allen beteiligten Beamten gemeinsam verfasst wird. Ich weiß nicht – da sollte man vielleicht die Zeugen getrennt befragen."

An dem angeblichen massiven Pfeffersprayeinsatz durch die Angeklagten zweifelt Hautz auch gehörig, da keine Tatwaffen gefunden wurden. "Wo wirklich Zweifel aufgekommen sind, wo ich mir denke, dass mir von den Beamten bewusst die Unwahrheit gesagt worden ist, sind die Aussagen der Unbeteiligten."

Richter glaubt unbeteiligten Zeuginnen

Die hätten überhaupt keinen Grund zu lügen, haben sich auch nicht aufgedrängt. Eine Journalistin, die sich damals auch als solche zu erkennen gegeben hat, wüst beschimpft worden ist und daraufhin eine Beschwerde erhoben hat, habe erst durch die Zeugenladung erfahren, dass in der Sache noch etwas passiert.

In Bezug auf diese Angelegenheit hat Hautz ebenfalls noch etwas zu sagen: "Das Beschwerdemanagement bei der Polizei ist – ich sage es vorsichtig – suboptimal." (Michael Möseneder, 24.10.2016)