Die britische Premierministerin Theresa May bei einem Fernsehinterview im BBC-Gebäude in Birmingham. Der Brexit ist für Politiker und Juristen ein Labyrinth ohne klare Auswege.

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Wien – Beim EU-Gipfel in Brüssel hat die britische Premierministerin Theresa May zwar ihre Vorstellungen für den Brexit dargelegt, ihre Kolleginnen und Kollegen aber dennoch ratlos zurückgelassen. Denn es gibt keine Option außerhalb der EU-Mitgliedsschaft für Großbritannien, die der britischen Interessenlage entspricht, sagt Thomas Jaeger, der neue Professor für Europarecht an der Universität Wien. Bei einem Jus-Alumni-Frühstück im STANDARD sprach er vor Absolventen des Juridicums daher von einem "Brexit-Rätsel", vor dem Juristen und andere Experten seit dem Referendum im Juni stehen.

Das Problem beginnt damit, dass "keiner weiß, was die Briten wollen, und auch sie selbst nicht", sagt Jäger. Als Ziele hatten Brexit-Befürworter die Einschränkung des Zuzugs von EU-Bürgern, ein Ende der EU-Überregulierung, eine Absage an eine weitere Integration und die Einsparung der EU-Mitgliedsbeiträge genannt. Doch in all diesen Punkten sei die EU den Briten durch Opt-outs schon recht weit entgegengekommen oder es wurde dies vor dem Referendum in Aussicht gestellt.

Schwerer wiegen für Jaeger die aktuellen britischen Interessen in Bezug auf die EU. Dabei geht es nicht um den Zugang zum Binnenmarkt für Industrie und Dienstleistungen, etwa den Banken, sondern auch um den Digitalmarkt mit seinen Datenschutzregeln und um die Teilnahme am EU-Einheitspatent. Außerhalb der Union hätten britische Unternehmen massive Nachteile.

Freizügigkeit für Briten

Weiters gibt es Millionen von Briten, die in anderen EU-Staaten leben, studieren oder Immobilien besitzen, und tausende britische Mitarbeiter in europäischen Institutionen, die nicht ihren Job verlieren wollen. Studierende aus der EU sind für das britische Universitätssystem außerdem eine wichtige Einnahmequelle. Daher liege eine gewisse Freizügigkeit im britischen Interesse.

Im Welthandel wäre Großbritannien auf sich allein gestellt und dürfte sogar, solange der Brexit nicht vollzogen ist, Handelsabkommen mit anderen Staaten gar nicht verhandeln, meint Jaeger. Und alle bestehenden Verträge mit Drittstaaten wären mit dem Brexit obsolet.

Weitere Problemzonen stellt die Fischerei dar, einschließlich des Zugangs zu Häfen und Märkten für britische Fischer; die Antiterrorkooperation, die London besonders wichtig ist; sowie die Förderungen, die aus EU-Töpfen nach Großbritannien fließen, allen voran die Agrargelder aus dem EU-Budget. In all diesen Bereichen würden Neuverhandlungen und interne rechtliche Anpassungen lange dauern, glaubt Jaeger.

"Eine reine Binnenmarktlösung und eine Zollunion reichen für diese Interessenlage nicht aus", ist der Europarechtler daher überzeugt. Das zeige das Beispiel Norwegen, das größte Mitglied im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR), und die Schweiz, die durch rund 120 bilaterale Abkommen sich den Zugang zum Binnenmarkt großteils gesichert hätten. Aber beide Staaten müssten jetzt EU-Beschlüsse nachvollziehen und hätten kein Mitspracherecht.

Wichtige Bereiche wie Einheitspatent und Polizeikooperation müssten darüber hinaus zwischen Brüssel und London ausverhandelt werden. Theoretisch könnte London auch nach dem Vorbild Kanadas eine Art Ceta-Abkommen mit der EU abschließen. Doch dies würde noch weniger Bereiche abdecken als der EWR.

Worse-Case-Szenario WTO

Ein Ausscheiden aus der EU ohne vertragliche Regelungen wäre für die Briten ein "Worst-Case-Szenario", weil das Land dann auf den Status eines normalen WTO-Mitglieds zurückfallen würde. Das würde nicht für Großbritannien, sondern auch für die restliche EU einen "schweren ökonomischen Schock" auslösen, zitiert Jaeger aktuelle Analysen.

Artikel 50 des EU-Vertrags, der den Austritt regelt, gibt dabei wenig Hilfe, weil er so vage formuliert ist. Andererseits ist das auch ein Vorteil, da er viel politische Flexibilität zulässt, sagt Jaeger. Er sieht die beste Chance für beide Seiten in einem gesondert ausgehandelten Vertragswerk nach dem Vorbild der Schweiz, in dem eine möglichst enge Anbindung Großbritanniens angestrebt werden sollte.

Dies sei auch im Interesse der EU-27, ist Jaeger überzeugt. Dabei könne das EU-Sekundärrecht – z. B. Richtlinien – angepasst werden, um etwa den Briten selektiven Zugang zum Binnenmarkt einzuräumen, nicht aber das in den Verträgen fixierte Primärrecht.

Ein solcher Verhandlungsprozess lasse sich aber in den zwei Jahren, die Artikel 50 vorsieht, nicht erreichen, auch wenn Premierministerin May dies derzeit so darstellt. Realistisch seien vielleicht zehn Jahre – eine Verlängerung ist per einstimmigen Beschluss auch möglich. In dieser Zeit würde aber Großbritannien EU-Mitglied mit allen Rechten und Pflichten bleiben, denn ein Austritt ohne gültigen Vertrag würde Chaos hervorrufen.

Und völlig unklar ist, ob die Briten bis dahin ihre Meinung ändern und das Brexit-Gesuch zurückziehen können – und ob sie dann ihre Sonderrechte behalten würden. (Eric Frey, 24.10.2016)