Frankfurt/Seoul/Wien – Was genau passiert ist am 5. Dezember 2015 in Zimmer 433 eines Frankfurter Luxushotels, das versucht das Frankfurter Landgericht seit vergangener Woche zu klären. Angeklagt in dem Prozess, für den bis Mitte Jänner 15 Verhandlungstage anberaumt wurden, sind fünf Südkoreaner. Sie schweigen und haben nicht vor, das zu ändern.

Daher steht nur eine Version der Geschehnisse im Raum – jene der Staatsanwaltschaft. Und die lautet: Eine Gruppe Südkoreaner wanderte nach Deutschland aus, um ein Geschäft zu eröffnen. Im hessischen Sulzbach mietete sie ein Haus, doch wollen sie darin Spuren von Dämonen entdeckt haben. Die Gruppe siedelte um – in besagtes Frankfurter Hotel.

Dort soll sich schließlich Folgendes ereignet haben: Die 41-jährige Seon-Hwa P. fing an, Selbstgespräche zu führen, zu schreien und um sich zu schlagen. Die anderen, ihr Sohn, ihr Neffe, ihre Cousine und deren zwei Kinder, versuchten ihr daraufhin den Teufel auszutreiben. Stundenlang hielten sie die 41-Jährige fest, knieten auf ihrer Brust und steckten ihr ein kleines Handtuch sowie einen stoffüberzogenen Kleiderbügel in den Mund, damit sie nicht mehr schreien konnte. Das alles überlebte die Frau nicht.

Schamanistische Einflüsse

Viele Fragen gilt es nun zu klären. Ob es Mord, Totschlag oder Körperverletzung mit Todesfolge war, ist jene, die das Gericht zu beantworten hat. Die weit wichtigste Frage ist aber die nach dem Warum. Psychiatrische Gutachten haben bei den Südkoreanern keine verminderte Schuldfähigkeit ergeben, um schon einmal diese Option auszuschließen. Dafür gibt es einen anderen Anhaltspunkt: Die Angeklagten, so heißt es, sollen Christen mit schamanistischen Einflüssen sein.

Rund 8500 Kilometer östlich von Frankfurt hebt Peter Daley das Telefon ab. Der Australier lebt in Südkoreas Hauptstadt Seoul und lehrt an der Uni Englisch. "Ich habe den Fall in Frankfurt mitverfolgt. Das hat mich an einige Gruppen erinnert, die ich untersucht habe", sagt der 43-Jährige zum STANDARD. Mit Gruppen meint Daley Sekten, mit denen er sich beschäftigt, seit er 2002 nach Seoul zog und seine Mitbewohnerin bedroht wurde, weil sie eine Sekte verlassen wollte. In seinem Blog macht er die Aktivitäten zahlreicher Sekten publik. Im Gegenzug wird auch er bedroht oder gar verklagt – bislang ohne Erfolg.

Viele größere und kleinere Sekten

Dämonische Mächte, sagt Daley, "davon sprechen hier viele Sekten, um ihren Mitgliedern Angst einzujagen und sie so zu kontrollieren". Eine Zuordnung des Falls in Frankfurt zu einer Gruppe in Südkorea sei schwierig, denn es gibt viele größere und kleinere Sekten, die mitunter nur aus wenigen Familien bestehen; dann noch reguläre Religionsgemeinschaften und jene mit sektenähnlichen Elementen.

Das ganze Sektenwesen in Südkorea in Zahlen zu gießen ist unter diesen Umständen ein schwieriges Unterfangen. Daley schätzt die Zahl der angebeteten Messiasse auf 40 bis 50, andere sprechen von 60 bis 70. Und die Anzahl der Sekten wird von Experten auf rund 100 geschätzt. Doch auch diese Info ist mit großer Vorsicht zu genießen. "Die Behörden greifen meist erst ein, wenn es zu größeren Zwischenfällen kommt", erklärt Daley, "die Sekten ändern dann einfach ihren Namen, um sich der Strafverfolgung zu entziehen". Das erschwert natürlich eine Zählung der Sekten.

Glaube an Geister "tief verankert"

Auch bei der Anzahl der Mitglieder gibt es daher nur Richtwerte. "Von früheren Mitgliedern habe ich gehört, dass die großen Sekten aus 100.000 bis 150.000 Menschen bestehen", sagt Daley. Zu den bekanntesten gehört die Vereinigungskirche, besser bekannt als "Moon-Sekte", die mit Massenhochzeiten immer wieder für Schlagzeilen sorgt.

Das wirft eine generelle Frage auf: Wieso sind Sekten gerade in Südkorea so verbreitet? Daley nennt mehrere Gründe: "Der Schamanismus war lange Zeit die Hauptreligion, der Glaube an gute und böse Geister ist also tief verankert. Außerdem ist die Gesellschaft weniger aufs Individuum als aufs Kollektiv ausgerichtet. Es zieht die Menschen in Gruppen, das bieten Sekten an." Als letzten Punkt nennt Daley den traditionell ausgeprägten Respekt vor Älteren, der jenen zugutekommt, die sich als Messias ausgeben.

Trost finden in den Sekten

Tark Ji-il hat noch eine weitere Erklärung parat. Der Sektenexperte und Professor der presbyterianischen Universität in Busan sagte gegenüber dem Nachrichtenmagazin The Diplomat, dass die meisten kontroversiellen Religionsgruppen Südkoreas ihre Ursprünge in einer der drei folgenden Phasen des Landes haben: in der japanischen Besatzungszeit in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, im Koreakrieg (1950-1953) und schließlich in der Zeit der Militärdiktaturen von den 1960er- bis in die 1980er-Jahre. In den ersten zwei Phasen, einer Zeit großer Leiden, haben religiöse Gruppierungen Trost gespendet. In der letzten Phase, so Tark, konnten Sektenführer schließlich Fuß fassen, indem sie im Gegensatz zu den klassischen Kirchen die Militärdiktaturen unterstützten.

Das alles beantwortet nicht die Frage nach dem Warum im Fall der Frankfurter Teufelsaustreibung – das können nur die Angeklagten machen -, doch es ist ein Erklärungsversuch. Exorzistische Rituale wie in Deutschland hat Peter Daley in Südkorea bislang nur selten erlebt. Doch es kommt vor. Ende August wurde in der Stadt Siheung eine 25-jährige Frau enthauptet aufgefunden. Mutter und Bruder, die festgenommen wurden, gaben an, dass sie von Dämonen besessen war. Sie wollten sie davon befreien. (Kim Son Hoang, 22.10.2016)