Werden zu viele Bücher geschrieben? "Auf jeden Fall wird über die falschen gesprochen": Bestsellerautor Gerbrand Bakker.

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Schwarzbach in der Eifel, November 2015: "Noch eine Tücke der Tagebuchform: Man muss dafür sorgen, dass all die auf Stäben rotierenden Teller oben bleiben, anders gesagt, was noch offen ist, muss man im Gedächtnis behalten und wieder aufgreifen, sonst bleiben die Leser auf Fragen sitzen." Ein Jahr lang hat Gerbrand Bakker akribisch Tagebuch geführt, hat alles aufgeschrieben, was ihm zwischen Dezember 2015 und Dezember 2016 widerfahren ist, ihn beschäftigt hat – im Kopf und mit den Händen. Viel ist in diesen Aufzeichnungen von seiner Depression und – mehr noch – seinem Hund Jasper die Rede. Nachzulesen ist das alles in dem soeben erschienenen Buch Jasper und sein Knecht, womit zur Hierarchie zunächst alles gesagt wäre. Mit dem Epilog kommt die bittere Wende. Jasper erkrankt schwer. Im Februar 2016 – das fertige Manuskript liegt längst beim Verlag – notiert der Knecht in seiner Amsterdamer Wohnung: "Gartenkumpel Han und ich haben Jasper nicht unter dem alten Birnbaum in der Eifel begraben." Die Hoffnung auf Jaspers Genesung währt nicht lange. April: "Ein Kreis hat sich geschlossen. Am Mittwoch kann ich die Asche abholen, dann kommt er mit in die Eifel. Doch der alte Birnbaum."

Schwarzbach, September 2016: Am Birnbaum ließe sich das dazugehörige Haus kaum erkennen – zu viele gibt es davon in dieser Gegend, wo viel weg- und kaum zugezogen wird, das meiste alt wirkt und es oft auch ist: Bäume, Menschen, Häuser. Vor einem dieser Häuser sitzt ein Zigarette rauchender Mann, er trägt graue Shorts und ein rotes ärmelloses T-Shirt, winkt uns zu, eher beiläufig als bestimmt, so wie er später anderen winken wird: "Das sind alles Nachbarn, die sind auf dem Heimweg." Vor bald vier Jahren ist Bakker in die Eifel gezogen, um, wie er sagt, Abstand zu gewinnen: von seiner Heimat, vom Literaturbetrieb, von sich selbst. Das sei notwendig gewesen. Er habe hier wieder zu einer Zufriedenheit gefunden, die ihm in Amsterdam ganz und gar abhandengekommen sei; von Glück wolle er nicht sprechen, das strebe er nicht mehr an. Ein Stück seines Weges in Richtung Zufriedenheit ist in Jasper und sein Knecht detailreich dokumentiert – und nolens volens steht ein Romancier stets im Verdacht, am Ende vielleicht doch einen Roman vorgelegt zu haben, auch wenn es im Buch nicht zuletzt um den Widerwillen gegen ebendieses Unterfangen geht: "Ich will herauszufinden versuchen, wo er herkommt, und ihn wenn möglich sogar überwinden. Paradox ist natürlich, dass ich dabei eben doch ein Buch schreibe, dieses Buch. Aber dieses Buch ist kein Roman."

Bakker: Das ist komisch, und es ist in einigen Besprechungen auch behauptet worden, dass es sich doch um einen Roman handle, und irgendwie stimmt es ja auch.

STANDARD: Können Sie dieses Irgendwie etwas konkretisieren?

Bakker: Es stimmt insofern, als mir das auch bei meinen Romanen so gegangen ist, dass ich mich von den Figuren gelöst habe, sobald das Buch fertig war, so als hätten die überhaupt nichts mit mir zu tun, ich kenne die dann nicht einmal mehr. So ist es auch jetzt.

STANDARD: Sie geben im Buch sehr intime Dinge preis, etwa über Ihre Depression. Hat diese Ich-Entfremdung eine Schutzfunktion?

Bakker: Das ist gut möglich, aber es geschieht ohne Absicht. Es macht mir auch überhaupt nichts aus, wenn mich jemand fragt, warum ich dieses oder jenes über ihn geschrieben habe. Ich staune dann oft selber und sage mir: Ah ja, das hat also der geschrieben, der im Buch ich bin – ja und?

STANDARD: Sie erwähnen immer wieder, dass Ihre Mutter Ihre Bücher nicht lese. Gilt das noch?

Bakker (lacht): Ich muss das leicht korrigieren. Sie hat bei diesem Buch damit angefangen, aber ich habe ihr gesagt, dass sie sofort wieder damit aufhören soll. Ich hoffe, sie hält sich daran.

STANDARD: Haben Sie Angst vor ihrer Reaktion?

Bakker: Überhaupt nicht! Aber ich schreibe über diese Weigerung in diesem Buch, und ich behaupte ja, dass alles stimmt, was im Buch steht. Nur deshalb habe ich ihr das Lesen des Buches verboten.

STANDARD: Dann stimmt es also auch, dass Sie Ihren Kollegen Tommy Wieringa für "einen fürchterlichen Schnösel" halten und sich "alle Mühe geben, ihm aus dem Weg zu gehen"?

Bakker: Nicht nur ihm.

STANDARD: Im Buch erwähnen Sie, dass Sie es ganz und gar nicht mögen, übersehen zu werden. Das eine geht mit dem anderen schwer zusammen.

Bakker (lacht): Ja, das ist das Paradox der Depression. Ich arbeite hart daran, es aufzulösen.

STANDARD: Hilft der räumliche Abstand von Ihrer Heimat dabei?

Bakker: Sehr. Ich liebe die Hügel und Wälder hier in der Eifel allein dafür, dass sie im Kontrast zur Landschaft meiner Kindheit stehen, dem friesischen Polderland, wo man ja meist bis zur Erdkrümmung sehen kann.

STANDARD: "Vielleicht ist es so, dass man nicht fort gewesen sein darf, um bleiben zu können", schreiben Sie in Ihr Tagebuch während eines Aufenthalts in Ihrer alten Heimat. Ist es so?

Bakker: Meine Antwort finden Sie zwei Sätze weiter.

STANDARD: "Wenn man fortgewesen ist und zurückkommt, ist die Gefahr, von Melancholie überschwemmt zu werden, größer, gerade wegen der Lücke im gemeinsamen Sich-Verändern. Für empfindsame Seelen können Wehmut und Melancholie tödlich sein."

Bakker: Darauf ist schwer etwas zu fragen, oder?

STANDARD: Geht es beim Schreiben um Leben und Tod?

Bakker: Beim Schreiben nicht, aber im Leben.

STANDARD: Greift bei einem Schriftsteller nicht eins ins andere?

Bakker: Bei einem Schriftsteller vielleicht schon, aber ich bin ja kein Schriftsteller.

STANDARD: Sondern?

Bakker: Jemand, der Bücher schreibt.

STANDARD: Und was macht den Unterschied aus?

Bakker: Ein Schriftsteller hat das Schreiben zu seinem Beruf gemacht, er nimmt eine bestimmte Rolle ein, zum Beispiel die der Beauskunftung zu allen möglichen und unmöglichen Fragen. Er ist von Berufs wegen Denker. Ich bin kein Denker.

STANDARD: In "Jasper und sein Knecht" üben Sie sich in einem selbstkritischen Blick auf die Zeit, in der Ihnen der Roman "Oben ist es still" über Nacht zu literarischem Weltruhm verholfen hat.

Bakker: Ja, ich habe mir unlängst die Mühe gemacht, nachzulesen, was ich damals gebloggt habe. Es ist einfach nur peinlich. Ich habe mich mit diesem Erfolg in einer Weise identifiziert, die ich mir nach wie vor nicht erklären kann. Es hat lange gedauert, bis ich dieses Missverständnis in mir klären konnte, eigentlich dauert dieser Prozess immer noch an.

STANDARD: Worin bestand das Missverständnis?

Bakker: Dass der Erfolg des Werkes mit der Wertschätzung meiner Person zu tun haben könnte.

STANDARD: Immerhin sind Sie dessen Autor.

Bakker: Aber das war's schon.

STANDARD: Beruht die Tragik des Ruhms nicht zum Gutteil auf diesem Missverständnis?

Bakker: Ich würde sagen, zur Gänze.

STANDARD: Sie lassen in "Jasper und sein Knecht" kein gutes Haar am niederländischen Literaturbetrieb. Bei jedem anderen würde man mutmaßen, dass es da offene Rechnungen zu begleichen gilt ...

Bakker: Nein, ich bin ganz schlecht im Rechnen. Ich finde es unerträglich, wenn bei Lesungen hochtrabend über Literatur gesprochen wird. Jemand hat ein Buch geschrieben – ja und?

STANDARD: Werden denn zu viele Bücher geschrieben?

Bakker: Auf jeden Fall wird über die falschen gesprochen.

STANDARD: Flandern und die Niederlande sind heuer Ehrengast der Frankfurter Buchmesse. Wird dort über die richtigen Bücher gesprochen werden?

Bakker: Der Nederlands Letterenfonds wird sich etwas dabei gedacht haben, wen er eingeladen hat. Ich habe mit dem offiziellen Auftritt der Niederlande nichts zu tun.

STANDARD: Aber Sie werden in Frankfurt sein ...

Bakker: Ja, aber das läuft alles über Suhrkamp, und ehrlich gesagt bin ich darüber ziemlich froh.

STANDARD: Hält Sie denn der Suhrkamp-Verlag von allem fern, was Sie im Buch das "Drumherum" nennen und von dem Sie schreiben, dass Sie es hassen würden?

Bakker: Nicht von allem, aber ich habe denen klar gesagt, dass spätestens am 15. November Schluss ist. Dann werde ich mir endlich einen neuen Hund zulegen. (Josef Bichler, Album, 23.10.2016)