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Idylle in einer US-Gartensiedlung Ende der 1950er-Jahre: Welchen Weg nimmt man zur Utopie?

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Michael Hutter: "Es gibt Kommentare zu Thomas Morus, die meinen: Das wäre heute ein Polizeistaat."

WZB

Linz – Im Jahr 1516 verfasste der englische Staatsmann Thomas Morus den philosophischen Dialog "Utopia", der allen späteren Visionen fiktiver Gesellschaftsordnungen ihren Namen gab. In Morus' erfundenem Inselstaat lebt die säkular organisierte Gemeinschaft ohne Geld, Privateigentum oder Todesstrafe. Stattdessen herrscht religiöse Toleranz und allumfassende Gleichheit. Anlässlich des 500-Jahr-Jubiläums der wegweisenden Schrift veranstaltete die Kunstuniversität Linz in Wien gemeinsam mit dem Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) zwischen 13. und 15. Oktober in Linz die Tagung "Utopia 2016". Unter den Vortragenden: der Soziologe Michael Hutter.

STANDARD: Thomas Morus' utopischer Staat wirkt auf den ersten Blick nahezu modern, beispielsweise wird dort Sterbehilfe für Todkranke praktiziert. Wäre seine Vision ein praktikables Zukunftsmodell?

Hutter: Nein. Genau genommen beginnt Morus ja mit einem Augenzwinkern. Der erste Witz liegt schon im Namen "Utopia", der englisch ausgesprochen sowohl "Nicht-Ort" (Outopia) als auch "schöner Ort" (Eutopia) heißt. Was also dann folgt, ist nicht etwas, das in eine gesellschaftliche Wirklichkeit umsetzbar ist. Vieles davon lässt einen sogar schaudern, etwa die völlige Gleichheit oder die Zuteilung der Berufe ohne eine Möglichkeit, sich zu verändern.

STANDARD: Gibt es heute überhaupt noch Utopien im Sinne eines politischen Ziels?

Hutter: Die gibt es durchaus. Die gesellschaftliche Diskussion arbeitet dauernd mit unterschiedlichen Zukunftsbildern, mit solchen, die Entwicklungen sehr pessimistisch darstellen, um zu verhindern, dass sie eintreten – beispielsweise "Wenn es so weitergeht, dann werden die Küstenstädte überflutet" -, aber auch mit positiven Bildern. Hier fungiert die Utopie als eine Art begriffliche Hülle, mit der man sich dann verständigen kann.

STANDARD: Also gleichsam viele kleine Utopien?

Hutter: Ja, und das ist gut so. Auf Ziele wie "Wohlbefinden für jedermann" kann man sich ja schnell einigen. Das Problem liegt vielmehr darin, welchen Weg man wählt, um dorthin zu kommen. Und wenn der entsprechende Prozess so konzipiert wird, dass sich die einen für alle anderen etwas ausdenken, und die haben dann danach zu leben, würden wir heute davor weitgehend zurückscheuen – nicht zuletzt weil wir einige Experimente in dieser Richtung von rechts und links bereits erlebt haben.

STANDARD: Utopien haben demnach auch eine autoritäre Komponente?

Hutter: Ja, sogar eine sehr starke. Es gibt Kommentare zu Thomas Morus' Entwurf, die meinen: Würde man das so umsetzen, dann wäre das letztlich ein Polizeistaat. Deshalb setzen wir heute sehr viel mehr auf Varianten von Selbstorganisation und Selbstmotivierung, auf Freiräume, in denen etwas ausprobiert werden kann. Man versucht sogar Scheitern als eine positive Komponente zu verstehen, weil man merkt, dass ein so komplexer Prozess wie gesellschaftliche Entwicklung nicht so unterkomplex behandelt werden kann, dass eine Person oder eine kleine Gruppe für alle anderen Entscheidungen trifft.

STANDARD: Nicht zuletzt dank der Allgegenwärtigkeit von schlechten Nachrichten hat man heute nicht gerade das Gefühl, dass sich die Welt in einen besseren Ort, ein Utopia, wandelt. Eine Täuschung?

Hutter: In den 1980er-Jahren war es beispielsweise die durchaus reale Gefahr eines nuklearen Krieges, heute sind es Klimawandel und Terrorismus: Anscheinend ändern sich zwar die Szenarien, das Gefühl des Weltuntergangs aber scheint durchaus begleitend zu sein. Und es liegt natürlich auf der Hand, dass diese Ängste zu schüren auch im Interesse einiger Parteien liegt. Andererseits nimmt man eher hin, dass mittlerweile viele Krankheiten besiegt oder gebändigt sind. Aids beispielsweise wurde in den 70er-, 80er-Jahren noch als weltbedrohend angesehen. Heute ist es eine zwar nicht heil-, aber behandelbare chronische Erkrankung.

STANDARD: Heißt das, dass, entgegen der allgemeinen Stimmungslage, doch langfristig ein Utopia heraufdämmert?

Hutter: Im Sinne eines Orts, der da irgendwo in der Zukunft liegt, würde ich sagen: nein. Es sind vielmehr graduelle Veränderungen, durch die wir fortlaufend versuchen, uns gegen Widerstände sowohl realer Gefahren als auch von Machtinteressen durchzusetzen. Dabei kommen immer neue Koalitionen zustande, werden immer neue, auch wissenschaftliche Erkenntnisse gewonnen, die uns jeweils einen kleinen Schritt weiterbringen. Nach meiner persönlichen Wertung würde ich das, was in den letzten 50 Jahren passiert ist, für einen Gewinn halten. Die heutigen Möglichkeiten, etwa in der Mobilität oder Kommunikation, sind von einer Größenordnung, die man sich nicht hat träumen lassen.

STANDARD: Gab es Rückschritte?

Hutter: Ja, natürlich. Ein Prozess, der mir zum Beispiel Sorgen bereitet, ist die asymmetrische Vermögensverteilung. Die Situation ist heute schlechter als noch vor 20, 30 Jahren. Das Problem ist inzwischen zumindest artikuliert und belegt. Wirklich gut verstanden haben wir das Phänomen aber noch nicht, geschweige denn dass wir in unser bestehendes System Faktoren einbauen können, die einem so grundlegenden Prozess entgegenwirken.

STANDARD: Kann die Welt überhaupt je ideal werden?

Hutter: Nein, die Idee einer idealen Welt gibt es nicht und sollte es auch nicht geben – und das würde ich auch als Vorteil betrachten. (Thomas Bergmayr, 22.10.2016)