Vom Uferlaufen im zehnten Bundesland, Postkartenspätsommerwetter Mitte Oktober und einem heimatfilmkompatiblen Zieleinlauf beim 45. Wolfgangseelauf

Manchen Klischees entkommt man nicht. Und je weiter man weg fährt, umso rascher holen sie einen ein: Wenn man in Denver in einem Diner sitzt und die Kellnerin fragt, woher man denn käme, kann es passieren, dass die gute Dame als Antwort auf die Antwort mit strahlendem Lächeln zu singen und zu tänzeln beginnt – und todunglücklich ist, wenn ein ganzer Tisch voll Österreicher sie ahnungs- bis fassungslos anstarrt: "But: Austria – Sound of Music. Salzburg. Wolfgangsee …" Kommt dann. Und ungläubiges Staunen: "What? You have never seen ‘The Sound of music‘?"

Nö, hab ich nicht. Genauso wenig wie ich "Im weißen Rössl" je gesehen habe. Aber auch wenn man versucht, Klischees und Gegenden, die von Bus-Thementouren angefahren werden zu meiden, ist halt doch eines wahr: Nur mit Marketing allein macht man aus einer Region keine touristischen Kult- und Pilgerstätten. Wenn es am Wolfgangsee nicht unpackbar schön wäre, hätte die Geschichte der Trapps ebenso wenige Leute interessiert, wie Franz Antels Huldigung dieser Ecke Österreichs.

Foto: Thomas Rottenberg

Ich war aber nicht hier, um auf Waltraud Haas' oder Peter Alexanders Spuren zu wandeln – sondern um zu laufen: Die rührige Kärntner Laufbloggerin Running Zuschi – im wirklichen Leben: Edith Zuschmann – hatte mich eingeladen. Weil man vom Bloggen alleine nicht leben kann, machte sie die Pressearbeit für die Veranstalter des Wolfgangseelaufes. Der fand vergangenes Wochenende zum 45. Mal statt. Im Programm waren die volle Marathondistanz, der "Klassiker" über 27 Kilometer, der "Uferlauf" über 10 Kilometer – und ein 5,2k-Panoramalauferl. Ob ich Lust hätte, hatte Zuschi gefragt – und Zimmer & Startplatz schon reserviert, bevor ich überhaupt reagiert hatte: die Dame kennt mich eben schon ein bisserl.

Foto: thomas rottenberg

Der Wolfgangseelauf gilt nicht ohne Grund als Traumlauf. Egal über welche Distanz: Landschaftlandschaftlandschaft halt. Salzkammergut. Frühherbst. Undsoweiterundsofort. Als der Lauf vor 45 Jahren zum allerersten Mal stattfand, las ich im Magazin im Startersackerl, gingen hier 14 (ich nehme einmal an) Männer an den Start. Ins Ziel kamen 12. Zwei gingen, heißt es im Heft, in Wirtshäusern entlang der Strecke verloren.

Das ist – auch heute noch – angesichts von Landschaft und gastronomischem Angebot durchaus nachvollziehbar.

Foto: thomas rottenberg

So wie der in der Veranstalter-Kommunikation durchgängig strapazierte Vokabel-Duathlon von "Mythos & Leidenschaft": der Wolfgangseelauf ist so richtig knackig. Wenn man sich den "Klassiker" oder den Marathon gibt. Da gibt es nämlich neben viel Landschaft und Panorama auch jede Menge Höhenmeter – und zwar gleich am Anfang. Sagt das Streckenprofil. sagen Freunde und Bekannte, die hier schon gelaufen sind.

Foto: thomas rottenberg

Die Zeiten, als beim Wolfgangseelauf nicht einmal 20 Läuferinnen und Läufer antraten, sind lange vorbei. Heute kratzt der Lauf an der 7.000-Teilnehmer-Marke. Und ist damit nicht nur hart an der Grenzen dessen, was die Strecken und Weg verkraften, sondern – insbesondere bei den "Jedermanndistanzen" – schon jenseits dieser Grenze. Und zwar obwohl die Veranstalter alles tun, um Infrastruktur und Ablauf so zu gestalten, dass möglichst jeder und jede ihren Spaß hat. Und im Großen und Ganzen funktioniert das auch wirklich hervorragend: So starten die einzelnen Bewerbe getrennt voneinander – und auch die Startblöcke der Massenläufe sind so strukturiert und laufen zeitlich versetzt, dass es eigentlich hinhauen müsste. Eigentlich. Dazu gleich mehr.

Foto: thomas rottenberg

Vorher aber noch eine Anmerkung in eigener Sache: Ich war vom Veranstalter eingeladen – aber nicht alleine gekommen. Doch so wie meine Freundin in der Woche zuvor beim Bodenseelauf, nahmen all meine Begleiterinnen und Begleiter auf eigene Kosten hier teil.

Mein Lieblingsmensch und ich waren letzte Woche am Bodensee, beim Dreiländermarathon den Halbmarathon gelaufen und meine Freundin war da auf Anschlag unterwegs gewesen. Der Rest meiner Gang war in Graz gestartet und hat – im Gegensatz zu mir – diese Saison auch sonst noch ein anständiges Portfolio an langen Läufen sowie olympischen- und Halbdistanztriathlons abgewickelt: Heute wollten wir einfach nur Spaß haben. Und einen Genusslauf hinlegen. Möglichst gemeinsam – und ohne jeden Druck: Den Zehner, den Uferlauf, also.

Foto: thomas rottenberg

Beim Uferlauf gibt es drei Startblöcke. Wer sich in den ersten stellt, sollte die 10 Kilometer in maximal 50 Minuten schaffen. Ganz ohne Arroganz: Das ist im Wettkampfmodus für keinen meiner Freunde ein Problem. Weil wir es aber wirklich gemütlich angehen wollten, etwa eine Stunde Laufzeit im Auge hatten, uns aber nicht im 600-Köpfe-Pulk des zweiten Blockes gegenseitig auf die Fersen treten wollten, stellten wir uns in die allerletzte Reihe des ersten Startblockes: Die anderen Läuferinnen und Läufer sollten vorziehen können – und wir hätten immer noch genug Puffer auf die flinken im zweiten Block. Und falls einen von uns der Ehrgeiz packen sollte, könnte er – oder sie – immer noch im eigenen Block nach vorne ziehen.

Ich weiß: Auch das ist nicht ganz korrekt – aber eine praktikable Lösung.

Foto: thomas rottenberg

Beim Start und auf den ersten Metern ging diese Taktik sehr gut auf: Vor uns gaben alle mächtig Gas. Eine Dame aus unserer Gruppe winkte mir nach 100 Metern kurz zu – und schloss sich dem Pulk an. Wir aber trabten entspannt los – und hatten praktisch ab der ersten Minute Traumausblicke auf einer Traumstrecke. Und wunderten uns: Schon nach 150, vielleicht 200 Metern, begannen wir, Starterinnen und Starter aus unserem Block zu überholen. Obwohl wir deutlich langsamer liefen, als es für die 50 Minuten-Benchmark nötig gewesen wäre.

Was wir erst später erfuhren: Diese malerische Brücke war die erste von zahlreichen Engstellen auf der ohnehin nicht wirklich breiten Strecke. Und nicht zuletzt weil da so viele Selbstüberschätzer im Pulk waren, die schon nach kurzer Zeit das Tempo nicht halten konnten, erzählte die Freundin, die nach vorne gezogen war, war die Strecke dann an solchen Nadelöhren dermaßen verstopft, dass man oft gehen oder sogar kurz stehen musste.

Foto: thomas rottenberg

Bei uns, am Ende des Trosses, war davon allerdings wenig zu spüren: Ja, obwohl wir nur 5:20er-Zeiten trabten (um 10 Kilometer in 50 Minuten zu schaffen müsste man einen Schnitt von 5:00 halten) überholten wir schon vor der ersten Kilometermarke etliche Läuferinnen und Läufer, die nicht einmal einen Sechserschnitt schafften. Und gratulierten uns dazu, dass wir nicht im zweiten Block gestartet waren: Wenn es im ersten aufgrund mangelnder Startblockdisziplin hinten schon am Anfang so dicht war, wie würde es da wohl im vorderen Drittel von Block zwei zugehen?

Foto: thomas rottenberg

Noch vor der ersten Kilometermarke fiel uns noch etwas auf: Der Weg doppelte sich auf. Die offizielle, mit Tafeln markierte Strecke war der Schotterweg rechts. Trotzdem liefen auf dem linken Weg deutlich mehr Läuferinnen und Läufer. Wir blieben rechts – obwohl mir zwei oder drei "Locals" zuwinkten: "Kommt rüber!"

Foto: thomas rottenberg

Wir blieben oben. Aus einem ganz einfachen Grund: Der echte Weg lag eine Spur höher und bot den hübscheren Blick auf den See, das Ufer, die Landschaft und die anderen Läufer – und ich brauchte Fotos

Die anderen Läufer liefen aber nicht aus Panorama-Ignoranz da unten, sondern aus einem ganz pragmatischen Grund: Der Uferpfad blieb knapp am Ufer – der "offizielle" aber vergrößerte die Distanz zum Ufer mehr und mehr – bis man dann im rechten Winkel zum schmäleren Uferweg zurückläuft: Man muss den pythagoräischen Lehrsatz nicht präsent haben, um zu erkennen, dass der Uferpfad (die C-Achse) kürzer als der reguläre Weg ist. Das sagen einem die laufenden Locals nämlich auch, wenn man sie da, wo die Wege wieder zusammenkommen, ein zweites Mal überholt.

Foto: thomas rottenberg

Das sind alles Peanuts. Und bei dem, was wir hier tun wollten, ist es auch vollkommen egal: "Landschafts- und Erlebnisläufer" lautet der Begriff, der im Veranstaltermagazin da immer wieder verwendet wird. Und wenn es ums Genießen und Erleben beim Laufen geht, spielen ein paar hundert Meter mehr oder weniger oder eine von langsameren Läufern blockierte Strecke genau gar keine Rolle.

Foto: thomas rottenberg

Das, was man auf dem Lauf um den Wolfgangsee an zauberhaften Salzkammergutimpressionen praktisch bei jedem Schritt vorgesetzt bekommt, macht derlei Imponderabilien mehr als wett. So wie die Stimmung unter den Läuferinnen und Läufern: Auch auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen: das ist ein Traum. Erst recht, bei diesem Wetter. Aber trotzdem: Auf PB – also "personal best" – möchte ich es hier nicht anlegen.

Foto: thomas rottenberg

Wenn wir schon beim Salzkammergut sind, kommt hier gleich noch ein Klischee: Das vom "10. Bundesland". Schließlich teilen sich drei Bundesländer das Salzkammergut – und auch wenn mir persönlich absolut blunzen ist, ob ich da in der Steiermark, Salzburg oder in Oberösterreich unterwegs bin, ist das für manche Menschen eben doch noch wichtig. Hier beim Lauf erlebte ich dieses Kirchturmdenken zwar kein einziges Mal – aber mit der Erzählung vom verzweifelten Regionaljournalisten, der mich bei einem Dreh im Salzkammergut einmal auf einen Berg begleitete und dessen Geschichte dann nicht erscheinen durfte, weil auf den Fotos vom Berg hinunter zu viel zum "falschen" Bundesland gehörende Landschaft zu sehen war, konnte ich auch hier ein paar kleine Lacher abholen.

Foto: thomas rottenberg

Seit dem Überschreiten der Landesgrenze ging es sanft, aber doch stetig immer wieder bergauf. Wir merkten es selbst nicht wirklich, aber die Zahl der Läuferinnen und Läufer, die wir (immer noch weit langsamer als für den Startblock eigentlich zulässig) überholten, nahm jetzt stetig zu.

Gleichzeitig wurden wir ab hier aber auch langsam von flotteren Läufern eingeholt: Ein paar wirklich Schnelle hatten nämlich anders gepokert als wir und sich im zweiten Block vorne aufgestellt. Sie hatten im Raum zwischen Block eins und zwei freie Bahn – und die Läuferinnen und Läufer, die hinter das Hauptfeld von Block eins zurückgefallen waren, waren weniger Hindernis, als die lange Zeit kompakte Masse vor uns.

Foto: thomas rottenberg

Wir hatten es fein. Liefen entspannt. Staunten darüber, dass das Wetter im Oktober so viel Herz mit den Teilnehmern und Veranstaltern dieses Laufes zeigte: Ich habe im Salzkammergut als Kind traumatische Sommerurlaubswochen verbracht: Gefühlt regnete es hier da nämlich immer – und es war arschkalt. Dass im Salzkammergut auch die Sonne scheinen kann, kannte ich nur aus jenen Filmen, die ich nie anschaute. Und hatte es schon wegen des strahlenden Wetters immer für unglaubwürdigen Lügenkitsch gehalten. Aber: Ich widerrufe!

Foto: thomas rottenberg

Kurz nach dem Schild, das den letzten Kilometer anzeigt, endet die etwas mühselige Steigung am schmalen Radweg. Kurz ist es flach – und dann geht es steil bergab, nach St. Wolfgang hinein. Hier geben alle nochmal so richtig Gas. Und so wirklich beliebt macht man sich da eher nicht, wenn man – eh am Streckenrand – kurz mal stehen bleibt um ein paar Erinnerungsfotos zu machen.

Foto: thomas rottenberg

Der "echte" Einlauf in den Ort ist dann einer jener Momente, in denen die Frage ob das jetzt kitschig oder superkitschig ist, obsolet wird: Wo, wenn nicht an solchen Orten muss und kann man Heimatfilmidylle und heile Welt inszenieren und als USP in die ganze Welt hinaustragen? Der Weg nach St Wolfgang, durch den alten Ortskern zur Kirche, mit einem kurzen Blick auf den See gehört jedenfalls zu den schönsten Zieleinläufen meiner persönlichen Läufergeschichte.

Foto: thomas rottenberg

Obwohl wir wahrlich nicht auf Zeit gelaufen waren, hatten meine beiden Begleiterinnen ab dem letzten Kilometerschild plötzlich doch noch Ehrgeiz entwickelt: Dass wir die Stunde locker unterschreiten würden, war schon nach dem ersten Kilometer klar gewesen – aber dass meine Freundin eine Woche nach ihrem ersten Halbmarathon "sub Zwei" auch auf dem Zehner eine so guter Performance samt persönlicher PB hinlegen können würde, hätte keiner gedacht oder geplant. Am allerwenigsten sie selbst.

Foto: thomas rottenberg

Ziellinie. Volksfeststimmung. Und alle sind happy: Ein Traumlauf bei Traumwetter in einer Traumgegend – und obwohl der Ehrgeiz erst ganz zum Schluss zugeschlagen hatte für meine Freundin sogar in einer super Zeit. Auch die anderen meiner Gang hatten ihre Ziele erreicht – vor allem die drei wichtigsten: Niemand hatte sich weh getan, alle waren durch gekommen – und jeder und jede hatte unterwegs Spaß daran gehabt, hier als "Landschafts- und Erlebnisläufer" (oder -läuferin) keinen Herbst- sondern eigentlich einen Spätsommerlauf genossen zu haben.

Foto: thomas rottenberg

Aber natürlich kam dann, als wir mit den Finishermedaillen um den Hals im Zielraum herumstanden, Kekse aßen und Tee tranken, als hätten wir gerade einen 42er ins Ziel gebracht, die Rede auf das nächste Jahr: die Frage, ob wir wieder hier laufen wollen würden, war in Wirklichkeit keine. Nur über die Strecke müssen wir noch reden: Weil 10 Kilometer zwar ganz lieb sind, aber da eigentlich doch ein bisserl mehr drin ist. Wenn man will. Das ist die einzige offene Frage.

Oder vielleicht eine von zwei. Die andere werden wir aber erst nach dem Zieleinlauf beantworten können: Nämlich die, wie kalt der Wolfgangsee 2017 sein wird. (Thomas Rottenberg, 19.10.2016)

Mehr Geschichten vom Laufen gibt es auf derrottenberg.com

Anmerkung im Sinne der redaktionellen Leitlinien: Die Teilnahme am Lauf und der Aufenthalt am Wolfgangsee waren eine Einladung der Veranstalter.

wolfgangseelauf.at

Nachtrag: Wie auch der Veranstalter erst in der Nacht auf Mittwoch erfuhr, ist ein junger Läufer, der auf der 27-Kilometer-Strecke kollabiert ist, verstorben. Aus Pietätsgründen werden keine weiteren Details vonseiten des Veranstalters bekannt- und weitergegeben.

Foto: thomas rottenberg