André Kubiczek, "Skizze eines Sommers". € 20,60 / 384 Seiten. Rowohlt Berlin, Berlin 2016

Foto: Rowohlt Berlin

Lange Sommerferien. Und sieben Wochen lang sturmfreie Bude. Ein Traum! Ein Traum, der für René, der im Juli 1985 seinen 16. Geburtstag feiert, wahr wird. Denn sein Vater, ein Staatswissenschafter, nimmt sieben Wochen lang an einer Friedens- und Abrüstungskonferenz im fernen Genf teil.

Renés Beziehung zum Vater ist ohnehin recht distanziert, die Mutter zwei Jahre zuvor verstorben. Am Ende des Sommers wird er einrücken in ein Spezialinternat für den Kader-Nachwuchs. Denn René lebt in der DDR, in Potsdam. Und in diesem Sommer verbringt er viele Tage mit seinen besten Freunden, genauso schnell mit Sagern bei der Hand wie er, er geht tanzen in die Disco, sie trinken, sie rauchen, sie lesen. Einmal fährt er mit einem Freund in ein Dorf in den Harz, um eine Bekannte zu besuchen. René verliebt sich, einmal, dann noch einmal, in ein anderes junges Mädchen. Dann ist der Sommer vorbei.

Der letzte stabile Sommer

Der Sommer 1985, das war der letzte stabile Sommer der DDR. Das Politische ist in André Kubiczeks Skizze eines Sommers recht weit entfernt. Auch wenn René sich wie ein düstrer Dandy kleidet und abfällige Blicke erntet. Auch wenn er in der Schule die Parolen von Sozialismus und Frieden, von Marx und Lenin lauthals, dabei hochironisch aufsagt. Auch wenn der eine Baudelaire-Band, aus dem Westen!, in der Buchhandlung eine Unsumme kostet.

Gorbatschow wird nur einmal, en passant, erwähnt, ein ferner Name in Moskau. Man merkt nur andeutungsweise erste zarte Risse im sozialistischen Alltag. So kehrt Renés Vater, selbst eher lax denn linientreu, aus der Schweiz mit Levi's Jeans und einer modischen Brille zurück, die es in der DDR nirgendwo zu kaufen gibt.

Das Verhältnis der Menschen zum Arbeiter-und-Bauern-Staat, Verkörperung des bürokratischen Geronto-Sozialismus, ist ein ansehensfreies. Man hat sich eingerichtet in den Nischen, die offeriert werden – so sind die Eltern Rebeccas, Renés zweiter Liebe, systemdistanzierte Künstler, leben in einer alten Villa am Heiligen See, dürfen aber nach Westberlin fahren -, in den Versorgungsengpässen, in den Defiziten. All das macht für die Jugendlichen rein gar nichts, solange man Westfernsehen schauen und sich über die neuesten Hits und angesagtesten Bands auf dem Laufenden halten kann.

Erste unsterbliche Liebe, die nur kurz hält. Zweite unsterbliche Liebe, mit merkwürdigem Beigeschmack, weil Rebecca aus einer anderen Schicht stammt und offenkundig so intelligent wie schwer depressiv ist. Davon handelt dieses Coming-of-Age-Buch, das siebte des 1969 geborenen und heute in Berlin lebenden Autors.

Der Protagonist und Icherzähler René ist genau so alt, wie dies André Kubiczek im Jahr 1985 selbst war. Sohn eines DDR-Staatswissenschafters und einer Laotin, wuchs er in Potsdam auf, wovon er 2012 im autobiografischen Band Der Genosse, die Prinzessin und ihr lieber Sohn erzählte.

Die Jahre vor 1989

Skizze eines Sommers liest sich leicht, locker, beinah anstrengungslos. Schnell und stimmig, plastisch und tonfallsicher ist Renés Duktus. Dramaturgisch ist das Buch hingegen weitgehend bar größerer Höhenflüge oder Überraschungen. Von Anfang an ist der chronologische Rahmen vorgegeben, das Ablaufen der freien Zeit, in der sich Renés Entwicklung vollzieht. Liebevoll flicht Kubiczek die damaligen Moden und Musikbands und Singles ein; so detailgetreu, dass Rezensenten, aufschlussreicherweise sind es in Deutschland fast nur solche, die in den 1960er-Jahren in der DDR zur Welt gekommen sind, dies sanft nostalgisch bejubilierten.

Doch genau dies ist auch das Dilemma dieses Romans. Kubiczek hat ein sehr ähnliches Problem wie die nur wenig älteren Schriftsteller Thomas Brussig und Ingo Schulze, beide ebenfalls in der DDR geboren und aufgewachsen. Ihr Erzählstoff nährt sich zur Gänze aus den Jahren vor 1989.

Dem seither verstrichenen Vierteljahrhundert Deutschlands, Europas, der Welt stehen sie – als Romanciers, nicht als Zeitbeobachter wohlgemerkt – so rat- wie sprachlos gegenüber. Haben Brussig und Schulze in den letzten Jahren qualitativ unübersehbar die Fäden ihres Romanstoffes, die späten Jahre der DDR, fast zur Gänze aufgebraucht, sodass kaum ein Tragfädchen mehr übrig ist, so besteht diese Gefahr auch beim leichthändiger vorgehenden Kubiczek. Noch schlimmer: Es droht die völlige Belanglosigkeit. Und ein zweiter Leser hinter Finsterwalde und ein dritter irgendwo im Oderbruch oder in einem Frühpensionistenheim an der mecklenburgischen Seenplatte.

Dabei kann er schreiben

Dabei kann Kubiczek schreiben, gut sogar. Aber: Er hat nichts zu erzählen, was man nicht schon häufig, viel zu häufig gelesen hat. Man könnte sich für Skizze eines Sommers als Verlagsheimat genauso gut, fast noch naheliegender als die Berliner Dependance des Rowohlt-Verlages, ein aufs Jugendbuch spezialisiertes Haus vorstellen.

Nur: Ob dieser Roman es dann in die engere Auswahl des Deutschen Buchpreises geschafft hätte? Gibt es denn keine anderen, kompositorisch ehrgeizigeren wie erzählerisch anspruchsvolleren Werke? (Alexander Kluy, 17.10.2016)