Die Stockholmer Gralshüter der hehren und hohen Literatur konnten es noch selten allen recht machen. Und es ist auch nicht so, dass es das fünfköpfige Nobelpreiskomitee der Schwedischen Akademie, das die erkleckliche Preissumme von acht Millionen Kronen (rund 880.000 Euro) über den Gekürten ausschüttet, bisher darauf angelegt hätte, seinen Preis nach Bekanntheit zu vergeben. "Herta who", titelte eine amerikanische Zeitung 2009 nach der Entscheidung für Herta Müller, und drei Jahrzehnte davor fragte der schwedische "Express", als die Auszeichnung wieder einmal an einen Lyriker ging: "Elytis – wer zum Teufel ist das?"

Dieses Jahr hat man nun mit dem US-Amerikaner Bob Dylan einen Musiker (und Autor) gekürt, von dem die meisten mindestens schon einmal gehört haben. Das ist schön und populär, regt nun aber auch wieder viele auf.

Laut Alfred Nobels Testament soll der Preis an den gehen, "der in der Literatur das Vorzüglichste geschaffen hat in idealischer Hinsicht". Dieser Satz des Dynamit-Erfinders öffnet ein breites Feld literarischer Möglichkeiten, und er schließt die Frage mit ein, ob Lyrics, also gesungene Liedtexte, Literatur sind oder nicht. Ja, sagt nun die Schwedische Akademie. Zu Recht, da Musik und Dichtung seit Jahrtausenden zusammengehören und von Dylans Werk eine poetische Kraft ausgeht, die vom Umgang mit der gebrechlichen Einrichtung der Welt auch und gerade mittels Sprache kündet. Das war allerdings beim älteren Lou Reed ähnlich, um nur einen zu nennen.

Falsch ist die Entscheidung, wenn man im Auge behält, dass mit diesem Preis auch (Literatur-)Politik betrieben wird, etwa letztes Jahr, als die Wahl auf die moskaukritische Swetlana Alexijewitsch fiel, bei der es sich eher um eine Reportageschreiberin denn um eine Schriftstellerin handelt. Nun also die nächste Entscheidung, die für Aufsehen sorgt. Auch weil andere, lange als Anwärter gehandelte amerikanische Autoren wie Philip Roth, Thomas Pynchon oder Joan Didion nun wohl vom Tisch sind. Zudem hat das Stockholmer Komitee sein Visier sehr spät in Richtung der ausfransenden Ränder literarischen Schaffens geöffnet und erweckt nun den Anschein, es hätte den jährlich erschallenden "Dylan, Dylan!"-Rufen nachgegeben. Ihr Ziel, den Preis und Literatur – trotz der Weltlage – zum Gesprächsthema zu machen, haben die Schweden hingegen erreicht. Jedenfalls für einen Tag. (Stefan Gmünder, 14.10.2016)