Hilde Holger in einer Pose für ihr mechanisches Ballett. Von den Nazis aus Wien vertrieben, wurde sie in Indien eine international angesehene Pionierin des modernen Tanzes. Im Kunsthaus wird ihre in Österreich fast gänzlich vergessene Geschichte erzählt.

Foto: Anton Josef Trcka

Das fiktive Konggebirge gab es nur in Karten der Kolonialherren.

Foto: Markus Krottendorfer

Graz – Wenn man auf der Flucht alles zurücklassen muss, gibt es etwas, das jeder Mensch mitbringt in eine neue Heimat, in ein fremdes Land: seinen Körper und damit Gesten und Körpersprache, die anderswo eine Geschichte erzählen. Aus diesem Gedanken entwickelte die Kunsthistorikerin und Kuratorin Zasha Colah die Hauptausstellung im diesjährigen Steirischen Herbst. In Zeiten, da Flüchtlingen per Gesetz sogar ihr Schmuck abgenommen werden kann, wird das im Körper gespeicherte Gedächtnis zum einzigen verbleibenden Gepäck.

Die im Kunsthaus gezeigte Schau Body Luggage – Migration von Gesten zeigt zwölf Positionen von Künstlerinnen, durch die Colah elegant einen roten Faden, der niemals reißt, legte.

Milica Tomic thematisierte auf mehreren schwarzen mit Kreide beschriebenen Tafeln, Monitoren und an einem Lesetisch die düstere Geschichte der Bergarbeiterstadt Omarska im Norden Bosnien-Herzegowinas, in der 1992 ein Lager existierte, in dem gefoltert und gemordet wurde.

Die Toten von Omarska

Hunderte wurden hier getötet. Tomic listet die in Massengräbern gefundenen Körper und Körperteile auf einer Tafel auf – eine schaurige Rechnung, die zeigt, dass auch leblose, ja selbst verweste Körper Geschichte transportieren. Unter dem Strich der Rechnung steht: Kein Mahnmal für die Opfer. Doch Tomic erklärte gemeinsam mit Überlebenden des Lagers den olympischen Turm aus Erz aus Omarska, den Anish Kapoor für London entwarf, zum Mahnmal im Exil.

Mit einer anderen aus Fotos, Dokumenten und Briefstücken bestehenden Dokumentation bringt Colah Licht in die österreichische Geschichte. Die Wiener Choreografin Hilde Holger floh vor der Nazidiktatur, um in Indien, Colahs Heimat, eine große Karriere zu machen. Holger, die ihre Erinnerung quasi in Tanzgesten einfror und modifizierte, wurde fast hundert Jahre alt und war eine Pionierin des modernen Tanzes Indiens.

Gleich daneben erzählt Simon Wachsmuth, selbst Enkel einer Tänzerin, die Geschichte seiner Familie. Sie war während der NS-Zeit teils in Schanghai und Palästina im Exil. In der Videoinstallation Qing wird chinesisches Porzellan von einer auf dem Boden sitzenden Tänzerin in einem chinesischen Kleid verschoben – wie Menschen über diverse Grenzen hinweg. Man ist ganz nah am Leitmotiv des Festivals, der Verschiebung kultureller Kartografien.

Um Karten geht es auch in der räumlich angrenzenden Ausstellung der Camera Austria At New Moon Tomorrow von Markus Krottendorfer. Denn in den fast idyllisch-dekorativ anmutenden Fotografien, die Krottendorfer in Afrika analog und mit Farbfiltern machte, dokumentiert er ein Gebirge, das es gar nicht gibt. Die Mountains of Kong, wie seine Serie heißt. Diese wurden nämlich von Europäern im 18. Jahrhundert in Karten gezeichnet, weil man den Flussverlauf des Niger falsch interpretierte. Die Geografie der Kolonialherren war wirkmächtiger als die Realität: Das Konggebirge hielt sich bis weit ins 20. Jahrhundert in Schulatlanten.

Weitere Beispiele von westlich bestimmter und verfälschter Wissenschaft dokumentiert Krottendorfer mit Fotos von Teilen des in London 1912 gefälschten Schädels, des sogenannten Piltdown Skull, der belegen sollte, dass der moderne Mensch mit größerem Gehirnvolumen aus Europa stammte. Alles Lüge. Der Unterkieferknochen des besagten Schädels war der eines Pavians. (Colette M. Schmidt, 7.10.2016)