Utopia 2016? Das IFK unter der Leitung von Thomas Macho macht dazu eine Konferenz.

Foto: Klaus Fritsche, Köln

Im Jahr 2016 hätten wohl viele Menschen etwas für die friedliche Utopie von 1516 übrig.

Foto: APA/AFP/GUILLERMO LEGARIA

Vor genau fünfhundert Jahren wurde ein Text in lateinischer Sprache gedruckt, dessen Titel ein ganzes Genre konstituieren sollte: die Utopia des englischen Staatsmanns Thomas Morus. Dieser Text, mit Unterstützung des Humanisten Erasmus von Rotterdam publiziert, schilderte die Gesellschafts- und Lebensformen auf der "nova insula" Utopia. Diese Insel ist freilich kein exotisches Paradies; so viel bezeugen schon die Rahmengespräche zwischen Thomas Morus, dem niederländischen Humanisten Pieter Gillis und dem fiktiven Reisenden Raphael Hythlodeus, einem Freund des Seefahrers und Entdeckers Amerigo Vespucci, der einige Jahre lang auf Utopia gelebt haben will. Nach seinem Bericht herrschen auf Utopia ganz andere Gesetze und Sitten als im damaligen England. Grund und Boden sind gemeinschaftlicher Besitz. Auch kennen die Inselbewohner weder Geld noch Privateigentum; denn überall, "wo es Privateigentum gibt, wo alle alles nach dem Wert des Geldes messen", sei es kaum möglich, "gerechte oder erfolgreiche Politik zu treiben, es sei denn, man wäre der Ansicht, dass es dort gerecht zugehe, wo immer das Beste den Schlechtesten zufällt, oder glücklich, wo alles an ganz wenige verteilt wird und auch diese nicht in jeder Beziehung gut gestellt sind, die übrigen jedoch ganz übel".

Menschliche Gesetze

Auf Utopia wird die Todesstrafe nicht verhängt, schon gar nicht gegen Diebe. Denn als Sühne sei die Todesstrafe zu grausam und als Abschreckung untauglich. Wer sie fordere, folge "dem Beispiel der schlechten Lehrer, die ihre Schüler lieber prügeln als belehren. So verhängt man harte und entsetzliche Strafen über Diebe, während man viel eher dafür hätte sorgen sollen, dass sie ihren Unterhalt haben, damit sich niemand der grausigen Notwendigkeit ausgesetzt sieht, erst zu stehlen und dann zu sterben." Morus argumentierte, dass die Todesstrafe die unbedingte Geltung des göttlichen Tötungsverbots zugunsten menschlicher Gesetze einschränke; und er plädierte für Strafen, die Verbrecher so behandeln, "dass sie gar nicht anders können, als gut zu sein und den Schaden, den sie vorher angerichtet haben, durch ihr weiteres Leben wiedergutzumachen". Morus selbst wurde übrigens am 6. Juli 1535 öffentlich enthauptet, weil er sich geweigert hatte, den obligatorischen Eid auf das Thronfolgegesetz Heinrichs VIII. – nach dessen Eheschließung mit Anne Boleyn – zu leisten.

Utopia ist eine Republik; die Städte werden von Senaten regiert, die aus temporären Wahlbeamten gebildet werden. Die Oberhäupter einer Stadt herrschen zwar auf Lebenszeit, können aber abgesetzt werden, sobald sie tyrannische Neigungen entwickeln. Die Bewohner führen monogame Ehen; vor der Hochzeit muss dem Brautpaar aber Gelegenheit eingeräumt werden, einander nackt zu betrachten. Die Sterbehilfe ist erlaubt: Wenn jemand an einer unheilbaren Krankheit mit quälenden Schmerzen leidet, wird ihm angeboten, seinem Leben ein Ende zu machen und sich "mit seinem Einverständnis von anderen seiner Pein entreißen zu lassen". Gegen seinen Willen aber wird niemand getötet; auch lassen die Utopier "es keinem trotz seiner Weigerung, freiwillig aus dem Leben zu scheiden, an irgendeinem Liebesdienst fehlen". Den Krieg verabscheuen die Einwohner von Utopia; wenn sie dennoch angegriffen werden, so treten sie dem Gegner "mit starken Kräften außerhalb ihres Landes entgegen"; denn im eigenen Land wollen sie keinesfalls Kriege führen. Auf Utopia herrscht Religionsfreiheit, und auch die Frauen können ein Priesteramt ausüben.

Utopisches Denken

Seit 1516 wurden zahlreiche Utopien konzipiert: soziale, pädagogische, politische oder technische Utopien. Dennoch haben sich ihre Faszinationspotenziale inzwischen signifikant erschöpft. Gern und häufig wird Helmut Schmidts Antwort auf eine Interviewfrage nach seinen Zukunftsvisionen zitiert: "Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen." Politik sei heute gut beraten, "auf Sicht" zu operieren; utopisches Denken gilt spätestens seit 1989 als latent totalitär. Dem Niedergang der Utopien sekundiert ein synchronistisches Bewusstsein, das durch die Omnipräsenz der Medien und sozialen Netzwerke beständig erweitert und geschärft wird. Die Dominanz dieses synchronistischen Bewusstseins manifestiert sich exemplarisch in der stets wiederholbaren Frage, was gerade, während ich beispielsweise im Kaffeehaus sitze, in der Welt geschieht: auf den Schauplätzen der Kriege in Syrien, im Jemen, in Afrika oder in der Ukraine, aber auch an Orten, an denen sich zur selben Zeit meine Kinder und Freunde aufhalten, die auf Facebook und Twitter posten, womit sie gerade beschäftigt sind: zumeist ebenfalls mit der Fülle beunruhigender Nachrichten, die sofort kommentiert und verbreitet werden müssen.

Der Aufstieg des synchronistischen Bewusstseins, einer Art von freischwebender Aufmerksamkeit, die dem Multitasking ähnelt, lässt die Welt zunehmend ereignishaft erscheinen. Hinter den Mind-Maps gleichzeitig aufblitzender Ereignisse verschwinden die Fragen nach der "longue durée", nach der Genealogie kriegerischer Konflikte und ökonomischer Krisen oder der Kohärenz individueller Lebensgeschichten. Wir leben in einem Zeitalter der "breiten Gegenwart" (Hans Ulrich Gumbrecht), des "Present Shock" (Douglas Rushkoff), der Rhizome und Wechselwirkungen; aber dieses Leben im Hier und Jetzt gleicht nur selten dem entspannten Leben, das vor einem halben Jahrhundert die New-Age-Propheten versprachen. Begleitet werden wir alltäglich von schlechten Nach-richten, Berichten von Katastrophen, Kriegen, Hungersnöten, Seuchen, Anschlägen, Fluchtbewegungen und wachsenden Bedrohungen; selbst die Wettervorschau kommentiert oft genug globale Gefahren, mit animierten Karten von Waldbränden, Überschwemmungen, schmelzenden Gletschern oder Erdbeben. Das Weltbild des synchronistischen Bewusstseins ist düster: ein Weltuntergangsbild, ein Dokument synchron geteilter Hoffnungsarmut. Nicht umsonst wurden die Utopien von einer Science-Fiction-Literatur abgelöst, die zumeist postapokalyptische Szenarien ausmalt; nicht umsonst gipfeln technische Zukunftsvisionen vorrangig in der Imagination ihres Scheiterns.

Keine Revolutionsforderung

Kann ein Jubiläum wie der fünfhundertste Jahrestag des Erscheinens der Utopia zu einer Kritik dieses synchronistischen Bewusstseins beitragen? Oder zumindest zur Diskussion der Frage, ob wir nicht auch eine "longue durée" der Zukunftsvisionen brauchen, der Fortschrittshoffnungen und Utopien, die nicht auf latente Apokalyptik und Katastrophenängste reduziert werden dürfen? Vielleicht ist die Rahmenhandlung der Utopia von 1516 wichtiger als die einzelnen Beschreibungen des Inselstaats, die ja gerade nicht als Revolutionsforderungen vorgetragen wurden: die Atmosphäre eines freundschaftlichen Gesprächs, im spielerischen Austausch von Gedanken, in der Erprobung von Gedankenexperimenten, gleichsam in einer spontanen Entfaltung sozialer Kreativität.

Der US-Historiker Jack Hexter hat einmal darauf hingewiesen, dass die Utopia vermutlich einem intellektuellen Spiel entsprungen ist, das Morus während der Pausen langwieriger Vertragsverhandlungen in Holland gepflegt hatte; dieses Spiel sei noch in der Renaissance sehr beliebt gewesen. Eröffnet wurde es stets mit einer Frage: "Wer ist der/die/das beste ...? Die beste Erziehung für einen Prinzen? Der beste Familienvater? Der beste Höfling? Die beste Ordnung eines politischen Gemeinwesens?" Mögliche Antworten und Ergebnisse ließen sich nicht vorhersagen; im Glücksfall führten sie zu einem Buch wie der Utopia. Ein Jubiläum als Frage? Vielleicht auch als Einladung zu Gedankenexperimenten, zur Lust auf spielerische Erfahrungen, zur Suche und Öffnung von neuen Räumen sozialer Kreativität. (Thomas Macho, 8.10.2016)